Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
auf Ihr Zimmer, und alles ist gut. Können Sie allein gehen, oder soll ich Ihren Pfleger rufen, oder soll ich Sie vielleicht begleiten?«
»Aber ich möchte lieber …«
»Ja, ich weiß, aber lassen Sie’s trotzdem gut sein. Hören Sie auf, weiter mit diesem Unsinn hausieren zu gehen. Sie sind doch noch jung. Wie alt sind Sie, Frau Schneider, vierzig, fünfundvierzig?
»Zweiundfünfzig, Herr Doktor.«
»Na also, da wollen Sie doch noch nicht reisen. Wir versuchen, die Spannung unter Kontrolle zu bekommen, ich verschreibe Ihnen zusätzlichen GV und …«
»Aber nein«, sie schüttelt verzweifelt den Kopf. »Sie verstehen mich nicht, ich möchte doch unbewusst reisen, ich möchte doch etwas unbewusst wollen, unbedingt unbewusst!«
»Ja, das wollen wir alle«, ich flüstere jetzt fast und gebe ihr mein Taschentuch, in das sie aber nicht hineinschnäuzt, sondern mit dessen dekorativer Unterstützung sie alles nur weiter schniefend nach oben zieht, damit sich ihre Stirnhöhle wieder entzünden kann. »Aber das geht nicht. Ich bitte Sie, Frau Schneider, gehen Sie schleunigst in Ihr Zimmer zurück und versuchen Sie, sich zu beruhigen.«
Bevor sie antworten kann, wenn sie denn antworten wollte, öffnet Dr. Tulps beherzter Arm die Tür, und weil sein charmantes Silberlächeln uns beide und keinen von uns beiden klar in den Blick nimmt, und er gutgelaunt ruft Der, die Nächste, bitte! , stürze ich in seinen Raum. Es ist das erste Mal, dass ich mit reinem Gewissen unrechtmäßig an jemandem vorbeiziehe.
»Na, lieber Kollege, dann lassen Sie mal sehen, was Sie haben, full house , nehme ich an?« Er lacht liebenswürdig und führt mich an Schulter und Handgelenk sanft zu seinem Behandlungstisch hinüber wie ein treues altes Pferd auf die Koppel. »Ja, legen Sie sich schön hin, oben noch mal bitte frei machen, das soll dann auch das letzte Mal sein, ich versprech’s.«
»Haben Sie meine Bilder und Dankeviczs Bericht über meine Nachtaufzeichnung schon bekommen?«
»Oh ja, habe ich beides bekommen«, er beugt sich stirnrunzelnd über mich. »Das sieht ja schlimm aus!«
»Jaja, Dankevicz sagte schon, es gäbe da irgendwo ein paar ungute Rückkopplungseffekte …«
»Nein nein, ich rede noch gar nicht von Ihrem in der Tat desolaten Innenleben, ich meine das hier«, er richtet sich ruckartig wieder auf, um mit gestrecktem Arm auf meine Brust zu zeigen und schaut verwundert, vielleicht auch ein wenig angeekelt auf mich herab. »Wie haben Sie das denn hingekriegt? Haben Sie sich selbst so zugerichtet?«
»Hm?« Die Mundwinkel zum Kinn und das Kinn in die Schlüsselbeinmulde gezogen, schiele ich an mir herunter, und erst da fällt es mir ein. »Ach so, das … die Narbe hat auf einmal so höllisch gejuckt, da habe ich mich wohl etwas vergessen.«
»Etwas? Ganz schön vergessen haben Sie sich da, von Stern! Was zwar eigentlich im Sinne des Erfinders ist, aber so weit darf man die Selbstvergessenheit nun auch wieder nicht treiben, dass man sein Narbenkreuz antastet. Und Sie haben sich ja hier die Haut drum herum, kreuz und quer so mit den Nägeln aufgefetzt, ja weggefetzt, dass die Zeichnung ganz unkenntlich geworden ist. Ich kann’s wieder richten, die Frage ist nur, ob ich Ihnen damit einen Gefallen tue, Kollege. Das müssen Sie mir sagen.«
Schweigend nicke ich ins warm orangene Licht der Behandlungslampe, und ich wünschte, ich läge jetzt unter Dr. Bulgenows Händen, der die Sache ohne ein Wort kitten würde und fertig aus.
»Ich weiß doch, wie’s in Ihnen ausschaut, von Stern«, Dr. Tulp drückt mir die Schulter und schiebt seinen schielenden, doppelt sich einfühlenden Blick zwischen mich und die Lampe. »Es ist ja auch ein Kreuz, das richtige Maß zu finden – sich vergessen und sich dabei nicht vergessen, das zerreißt einen schon mal, ganz klar. Aber auch das gehört eben zu den Problemen des Übergangs, von denen ich neulich sprach.«
»Hm. Vielleicht machen wir mich trotzdem erst mal auf, und dann schauen Sie, wie Sie meine Sache jetzt, also auf Grundlage der Bilder aus dem Schlaflabor, einschätzen, und ob Sie glauben, Sie könnten’s operativ …«
»Wissen Sie …«, er legt den Kopf schräg wie ein lauschender Vogel, schaut ein Weilchen versonnen zur Zimmerdecke hinauf und lässt sich dann seufzend in den niedrigen Ledersessel neben dem Behandlungstisch sacken, »wenn ich manchmal denke, ich halte es nicht mehr aus, dann rufe ich mir den Satz ins Gedächtnis, der auf diesem eingelegten hellgelben
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