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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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solltest du auch? Schon in Bachtschissaraj, so gut unsere Tage auch waren, ja weil sie so gut waren, stahl ich mich nun schon fast jede Nacht vor den Spiegel, und nach ein paar Monaten achtete ich nicht einmal mehr darauf, ob du gerade schliefst oder nicht, ob du vielleicht sogar schräg hinter mir, im Schlafzimmertürrahmen, standest, während ich hektisch gegen das beschlagene Glas anflüsterte. Nein, schlimmer noch, es war mir nicht mehr nur egal, insgeheim genoss ich nun schon den abscheulichen Gedanken, dass du da hinter mir stehen könntest, hilflos starr, ich genoss es, mich schamlos zu verachten und dich so noch weiter zu quälen, denn meine Bosheit hatte eben nur die Bosheit zum Grunde. Abscheulich war sie, und ich liebte sie; ich liebte es zu verkommen, ich liebte meine Sünde: nicht das, wonach ich in der Sünde griff – ich griff ja nach nichts, griff nirgendwohin – sondern mein Sündigen selbst . Das Schlimmste aber war, dass du später, als ich die Stelle in Kertsch doch angenommen habe, weil ich tatsächlich glaubte, dass Referent dann Ruhe geben würde, mich, uns in Frieden ließe, wenn ich nur dieser einen seiner Anweisungen folgte, dass du damals gesagt hast, alles sei einzig und allein deine Schuld, weil du mich damals auf der Wanderung zum Stawri-Kaja vor die Wahl gestellt hattest, bedingungslos, genauso bedingungslos, wie du mir jetzt hoch nach Kertsch folgtest, und dass es einen dritten Weg gegeben hätte, wenn du mich nur wenigstens hättest zögern lassen. Aber das stimmt nicht, denn wenn du mich auch nur einen Tag zögern hättest lassen, ich hätte dich fallen gelassen.
    »Nein, hättest du nicht.«
    »Hätte ich doch.«
    »Hättest du nicht.«
    »Hätte ich doch. Wenn man mich zögern lässt, lasse ich alles fallen, alles! Hättest du mir auch nur einen Tag Bedenkzeit gegeben …« »Nein, hättest du nicht. Das weiß ich besser als du.«
    »Immer musst du das letzte Wort behalten, immer! Versprich es mir, Esther!«
    Doch bevor du antworten kannst, fließt das klare Gebirgsbächlein wieder in Dr. Tulps Rede hinab:
    »Ich versuche immer, unsere Alleinstellungsmerkmale weder als Mangel noch als besonderen Reichtum zu sehen, von Stern, sondern einfach als gegeben hinzunehmen und als eine Maßnahme ausgleichender Gerechtigkeit, Homöostasie – was ist schon eine Hirnrindenschicht mehr oder ein Herz weniger –, am Ende pendelt sich alles ein … oder aus? Na, und immerhin haben wir diese schöne Narbe. Die kann uns keiner nehmen.«
    »Ja«, ich drücke den Stummel in einem lavendelgetränkten Wattebausch auf dem Beistelltischchen aus, nehme den Handspiegel und betrachte meine tatsächlich übel zugerichtete Brust. »Aber sollten wir mich nicht endlich mal aufmachen, es ist schon spät, und …«
    »Wie Sie wollen«, er erhebt sich schwerfällig, reibt mir lustlos den Thorax mit Desinfektionsmittel ab, aber statt mich aufzumachen, fängt er murmelnd an, mir die Risse zu kitten. »Die erste Narbe ist nicht nur die tiefere, sondern doch auch die noch schönere von beiden, finden Sie nicht auch? Von links oben nach rechts unten, das hat noch eine ganz andere Grazie als umgekehrt, und auch organischer geschwungen ist sie, leichthändiger, wenn Sie mich fragen. Wann haben Sie Ihre erste Narbe bekommen, von Stern, als Kind?«
    »Nein, mit neunzehn.«
    »Haben Sie sich auch das Herz gebrochen, so wie Holm?«
    »Nein nein, angeborener Fehler. Ich hatte eine ganz normale Kindheit und dann, kurz bevor das Ding völlig versagt hat, in einer überaus glücklich verlaufenen Transplantation doch noch Ersatz bekommen, habe mir bis dahin nie sonderlich viel aus mir gemacht und erst danach überdurchschnittliche Leistungen erbracht.«
    »Kannten Sie Ihren Spender oder Ihre Spenderin?«
    »Nein.«
    »Hat Sie nie interessiert?«
    »Nein. Und Ihre Erstnarbe, Dr. Tulp? Auch eine Transplantation?«
    »Oh nein, ich habe immer auf eigene Rechnung gelebt – Infarkt. Zu viel gesoffen, zu viel geraucht, zu viel operiert. Schöne Zeit gehabt alles in allem, mal abgesehen von meiner dippen Rippe, die mir permanent die Hölle heiß gemacht hat, sobald’s mal ein bisschen später wurde«, er schüttelt lachend den Kopf, und ein Tröpfchen Kitt aus seiner Pipette landet brennend in meinem Auge. »Sechs Bypässe, einer kruder gelegt als der andere, aber haben mir sauber die Stellung gehalten bis zum Schluss. Hach ja, die haben das hier schon ganz richtig gemacht alles, Leute zu nehmen wie uns, nur Leute, die schon einiges

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