Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Dohlenkönig, und sind doch gescheitert. Nicht einmal Judy Garland oder Hoher Wolf haben eine zweite Chance bekommen.«
»Aber ich will es trotzdem versuchen. Wir werden es heute Nacht wagen, und ich möchte, dass Sie sich mit Ihrer Karte bereithalten, Professor.«
»Mit dem Schnittmuster, hä?«
»N-ja.«
»Worüber redet ihr?«
»Nichts, Jungchen, dein Vater hier hat anscheinend vor der Ambulanten gründlich die Hosen runtergelassen und glaubt jetzt, er könne doch noch …«
»Was ist eine Ambulante?«
»Das erklär ich dir, Jungchen, falls du doch noch mal groß werden willst.«
»Doch noch, doch noch, doch noch!« Evelyn hüpft vom Stuhl und klatscht in die Hände. »Wir fahren nach Loch Doch, zum ungeheuerlichen Ungeheuer von – !«
»Evelyn!« Ich packe ihn am Ellenbogen und ziehe ihn wieder auf den Stuhl herab. »Wir fahren nirgendwohin, hast du mich verstanden? Du hast nichts gehört, ist das klar? Ich gehe jetzt kurz zu Dr. Tulp, zeige ihm meinen Mediator und meinen guten Willen, und dann gehen wir essen, und ihr werdet die ganze Zeit brav sein, alle beide, verstanden?«
Sie nicken synchron dem Boden zu, O.W. schaut mich aus seiner Bügelecke fest mit seinem klaren Meerblick an, und bevor irgendjemand es sich hier anders überlegt, drehe ich mich mit einer angedeuteten Pirouette auf dem linken Fußballen dem Ausgang zu.
39.
Ich hetze nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Was auch immer heute Nacht geschehen mag, die alte Hatz über die Flure, Referent hinter mir und ich hinter Referent, ist für mich schon jetzt vorbei. Mag Referent mich auch mit meiner schönsten, tiefsten Stimme noch so einschmeichelnd zu seiner Räson rufen, ich schlendre weiter. Knöpfe mir jetzt sogar genüsslich das Hemd weit auf, weil die doppelte, kreuzförmige Narbe auf meiner Brust plötzlich wieder juckt, höllisch juckt, was ich als gutes Symptom oder eher Phantom nehme. Ungeniert kratze ich daran herum, was die Sache noch schlimmer, also besser macht. Ich kratze immer wütender, in der idiotischen Hoffnung, dass da irgendetwas bluten könnte, wenn ich die Fingernägel nur tief genug hinein ins Fleisch schlüge.
Ausgerechnet heute ist mir jemand zuvorgekommen, wartet, den Kopf demütig über den im Schoß verknoteten Händen gesenkt, vor Dr. Tulps Behandlungszimmer auf dem Flur. Es ist auch noch ausgerechnet die lästige Frau Schneider, ich überlege, sie einfach zu übergehen und mich an ihr vorbei in Tulps Zimmer vorzudrängeln, was schon in Ordnung wäre. Die Leiden eines Arztes wiegen nun einmal schwerer, auf seinen Schultern hat er all das Leid all der Patienten zu tragen, macht in dieser unausgewogenen Leidensartistik eine derart instabile Figur, dass er in jeder Manege der Welt auf der Stelle zusammenbräche, aber hier … Doch da schaut sie lächelnd zu mir auf, matt und hocherfreut zugleich, und brav setze ich mich auf den Stuhl neben ihr.
»Na, Frau Schneider, wo drückt denn heute das Schühchen?«
»Ach, Herr Dr. von Stern, wie schön Sie zu sehen! Sie werden mich sicher besser verstehen als der Dr. Holm, der ist immer nur schnell, schnell. Kaum kriegt man den mal am Kittel zu fassen, schon ist er wieder …«
»Hm, sicher.«
»Und keiner will mir zuhören.«
»Hm, ja.«
»Und deshalb will ich die Sache jetzt von Dr. Tulp abklären lassen, man soll doch immer eine zweite Meinung einholen …«
»Mindestens, besser noch eine dritte und eine vierte, erst, wenn’s in der Grube von Schlangen nur so wimmelt, kann man einigermaßen sicher sein, dass die Viecher den wunden Punkt auch wirklich finden werden.«
»Sehen Sie«, sie strahlt, »das denke ich doch auch! Es ist nämlich so, dass ich so gern gen Italien reisen möchte.«
»Hm ja, ich hab davon gehört.«
»Verstehen Sie mich richtig, Herr Doktor, ich möchte so gern gen Italien … «, sie schielt überdeutlich erst in meinen, dann in ihren Schoß, »reisen, gen Italien , Sie verstehen, Ge-ni-ta-«
»Jj-a, ich hab’s schon, Frau Schneider.«
»Aber die wollen mich nach Italien, nach Florenz, wollen die mich überweisen, obwohl ich doch meine Wünsche unmissverständlich –«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Frau Schneider«, ich nehme ihre Hände in meine, drücke sie fest und schaue ihr noch fester in ihre in all den leidigen Jahren stumpf und fahl gewordenen veilchenfarbenen Augen. »Sie lassen jetzt das Gerede von diesen Reisewünschen, haben Sie mich verstanden? Statt sich von Dr. Tulp aufmachen zu lassen, gehen Sie schön zurück
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