Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Bogen, auf diesem Begrüßungsschreiben, das wir damals bei unserer Aufnahme zusammen mit der Akte bekommen haben, stand: Mit einer schönen Narbe kamen wir in die Klinik; das war unsere ganze Ausstattung . Erinnern Sie sich?«
»J-ja, aber ich glaube, das stand nirgendwo, das haben die uns doch beim Bekenntnisappell sagen lassen.«
»Ach so? Naja, kann sein, ist ja auch schon ewig her. Ob’s nun irgendwo stand oder auch nicht, jedenfalls gibt mir das irgendwie Halt in den dunklen Momenten.«
»Hm.«
»Jaja, ist blödsinnig, aber mir hilft’s«, er lacht wieder besser gelaunt. »Zigarettchen? Nein nein, bleiben Sie liegen, ich geb Ihnen …, ach, das tut gut, was? Ich bemitleide wirklich jeden, der ohne diese herrliche Prothese leben muss! Die armen Patienten, was nutzt es ihnen, dass sie frei bis runter in die Lunge atmen können, ohne das hier!«
Ich lasse träge ein paar Rauchkringel ins orangene Licht hinaufwabern, lausche Tulps gleichmäßig weiterplätschernden Worten, und auf einmal fließt mir das kristallklare Wasser des kleinen Gebirgsbächleins in Massandra in die Sinne, an dem wir auf der Wanderung hinauf zum Kreuzfelsen, Stawri-Kaja, rasteten, kurz nach meinem letzten Examen, was ich feiern wollte und auch, wie ich lachend hinzufügte, dass wir nun über ein Jahr zusammen waren, ohne einander umzubringen, und an dem du mich allen Ernstes vor die Wahl gestellt hast, entweder mit dir ins Innere, nach Bachtschissaraj oder besser noch direkt in eine der Höhlen von Tschufut-Kale zu fliehen, oder allein meinen glorreichen Weg an der Küste entlang zu machen. Ohne zu zögern habe ich eingewilligt, mit dir ins Innere zu gehen.
Das Bächlein plätschert weiter, lullt mich ein und will mir in tröstlicher Qual einreden, es hätte alles so bleiben können, wie es war, ja es hätte alles noch gut werden können, wenn wir in Bachtschissaraj geblieben wären. Man hätte mich abgeschrieben, nichts weiter, kein Hahn hätte nach uns gekräht. Schließlich mussten wir ja noch nicht einmal fliehen, lächerliches Wort, wir konnten einfach gehen. Ohne Umstände zu machen, hatten sie uns plötzlich zusammen mit meiner Examensurkunde die Heiratserlaubnis gegeben und ebenso umstandslos bewilligte der Klinikverwaltungsabschnitt Groß-Jalta mein Gesuch, vor meinem Einsatz als Assistenzarzt im grenzklinischen Gebiet zur weiteren Vertiefung meiner Praxis von Pranayama und Pratyahara für eine Weile im Palastsanatorium von Bachtschissaraj in Klausur zu gehen. Dass meine Ehefrau ihr Heilstudium an meiner Seite würde fortsetzen können, verstand sich damit von selbst.
Dr. Karg zeigte sich zwar etwas erstaunt über meinen Sinneswandel, war aber freundlich wie immer und lud mich zum Abschied sogar in das alberne Restaurantschiff Goldenes Vlies ein, das, über der Promenade von Jalta auf einem Wellenbrecher schwebend, die Argo darstellen sollte. Das Meer unter uns platschte friedlich gegen den Beton, das weiße Nylonsegel der Argo glänzte in der tiefroten Augustabendsonne, wir tranken stinkteuren falschen Aluschta, und Dr. Karg machte sich, mir zuprostend, lustig über die protzig tätowierten Luxuspatienten um uns herum, die sich einbildeten, der billige Rote im edlen Fläschchen hülfe gegen ihre Karma-Verstrahlung.
Es war spät geworden, auch der falsche Tropfen hatte seinen guten Zweck erfüllt, und als sich vor dem Hotel Oreanda, wo Dr. Karg eine für seine Position recht bescheidene Suite bewohnte, unsere torkelnden Wege fürs Erste trennten, klopfte er mir noch einmal herzlich mit seiner arthritischen Maulwurfsklaue auf die Schulter:
»So, von Stern, wollen Sie also wirklich in Klausur gehen, ja? In ein Potjomkinsches Dorf wollen Sie, jemand mit solch einer glänzenden Zukunft wie Sie? In einen Ort, den es für unsereinen gar nicht gibt, ja der noch nicht mal auf unserer Karte eingezeichnet ist? Wollen sich aus der Schusslinie des Erfolgs bringen, wie? Respekt, mein Junge, ich hätte das auch machen sollen damals, ja, doch, denke ich tatsächlich manchmal – was dann geworden wäre, nicht in die Grenzpflege geraten, vielleicht sogar Landarzt geworden. Naja, sentimentales Geschwätz. Aber im Ernst, ich bewundere Ihre Haltung – nein wirklich, sehr! Aber ich sag Ihnen was im Vertrauen, mein Junge, Sie kommen wieder! Noch ehe ein Jahr vergangen ist, kommen Sie zurück. Sie werden’s nicht aushalten. Adjüs, mein lieber von Stern!«
Und ich hab’s nicht ausgehalten und du hast mich auch nicht ausgehalten. Wie
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