Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
auch nach all den Jahren noch nicht perfekt.«
»Mhm, soso, und der alte Mann da, der hier schon zum hundertsten Mal um uns herum kreist?«
»Oh, das ist bloß Herr Asperger, er ist ein viel zu höflicher und diskreter Mensch, um andere zu beobachten.«
Ich schraube meinen Kopf über die rechte Schulter und dann über die linke, um möglichst viel von der Runde mitzubekommen, die Asperger summend um uns herum dreht, die Hände wie immer, als fürchte er sich vor ihnen, tief vergraben in den Taschen seiner abgewetzten blauen Cordhose, die ihm jede neue Schwester hier anfangs abnehmen will, bis sie einsieht, dass er in diesem einen Punkt stärker ist als wir alle zusammen, und im Takt seiner Schritte und seines Gesumms nickt er ruckartig dem Boden zu, wodurch sein schwarzgefärbtes und kurzgeschnittenes, an den Seiten und im Nacken rasiertes Haar aussieht wie ein Brikett, das ihm jeden Moment von der Stirn rutschen könnte. Ich lasse meinen Blick mit ihm im Uhrzeigersinn um uns herum kreisen, sodass ich uns nicht sehen und daher so tun kann, als bemerkte ich gar nicht, dass ich erst mich und dann dich ausziehe. Nur wenn ich die zwölf Uhr passiere, fliege ich heiter an deinem geliebten spöttischen Lächeln vorbei, bis du plötzlich mein Kinn festhältst und dich endlich auf mich setzt, wir lachen oder eher weinen leise, und nichts kann uns jetzt etwas anhaben, noch nicht einmal, dass Herr Asperger auf einmal lauthals den Refrain des schrecklichen alten Liedes aus unserer Jugend singt:
Büro, Büro, du kannst nicht von mir lassen,
Büro, Büro, wie könnt ich dich da hassen?
38.
Schon einmal bin ich so über die Flure gehetzt und habe mir dabei mit genauso zittrigen Fingern das frische weiße Hemd zugeknöpft und den Kittelkragen geglättet wie jetzt, aber damals im marmornen Liwadija-Palast auf dem Weg zu Dr. Karg ging es treppauf und treppab, während hier alles auf einer Ebene liegt, und so habe ich heute freilich auch keine Angst mehr vor einem Dispens, Suspens oder vor was auch immer, sondern ängstige mich ausschließlich um Evelyn, den ich unbegreiflicherweise da unten auf der Wiese sich selbst und, was vielleicht noch schlimmer ist, dem Professor überlassen habe.
In seinem Zimmer ist der Junge nicht, und weder zur zweiten noch zur dritten Laufkur ist er erschienen, wie die wie immer hilfsbereite Schwester Amentia mir aufgeregt mitteilt. Sie hetzt hundert Meter neben mir her, um mir Rapport zu erstatten, ihre Sandalen schmatzen laut, weil sie wegen ihrer dauerhochtonischen Empathie für Patienten und Referenten permanent schwitzt. Ohne sie anzusehen klopfe ich ihr im Gehen tröstend auf die feuchte Schulter, fummele dann hektisch an einem der Minirechner rum, das Monitoringsystem funktioniert ausgerechnet jetzt mal wieder nicht und will mir nicht einmal den Standort von O.W. anzeigen, renne daher zum Zimmer des Professors weiter, obwohl ich weiß, dass es aussichtslos ist, Evelyn dort zu finden, weil der Professor nie im Leben freiwillig ins Haus zurückgekehrt ist.
Mit rasselndem Atem erreiche ich mein Ziel, hebe die Arme wie ein siegreicher Läufer oder eher wie ein vor den Ordnungskräften kapitulierender Krimineller hoch über den Kopf, klebe meine Hände, als hätten sie Saugnäpfe, an die Glasscheibe und starre ungläubig auf das Idyll vor meinen Augen: Evelyn und der Professor, beide bereits fürs Abendessen vorbildlich in ihre Abendanzüge gekleidet, sitzen einander an meinem Schreibtisch in eine Partie Schach versunken gegenüber. Im Hintergrund steht O.W. und bügelt die Hemden des Professors, im Kopf hat er wieder seine Musik, zu der er lautlos die Lippen und die Hüften bewegt, und alle drei schauen sie erst zu mir hoch, als ich das Zimmer betrete. Evelyn strahlt mich an:
»Ich gewinne schon zum dritten Mal, Papa!«
»Nicht so voreilig, Jungchen, noch ist nicht aller Tage Abend …«
»Haben Sie die beiden Kumpel hier wieder raufgeholt, O.W.?«
»Wie?« O.W. hält verdutzt im Bügeln inne. »Äh … nein, Herr Dr. von Stern, sie sind von selbst zurückgekommen und haben sich ganz brav waschen und ankleiden lassen.«
»Aber Papa, ich hab dir doch gesagt, dass wir nur noch ein bisschen den Rosenmann gucken und dann reingehen, und genau so …«
»Ganz genau so, Jungchen, haben wir’s gemacht. Aber dein Vater ist zu dumm, um das zu begreifen.«
»Hm, scheint so«, ich schlurfe zum Bett hinüber, setze mich auf die Kante, greife reflexartig nach der Flasche auf dem Nachttisch, nur um
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