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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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Zimmer wieder erreicht habe und durch die Glasscheibe sehe, dass er noch immer genauso dasitzt wie ich ihn vor fast zwei Stunden verlassen habe: Über das Schachbrett gebeugt kratzt er sich ungläubig am Kopf und kann immer noch nicht verstehen, warum Evelyn ihn schon wieder geschlagen hat. Derweil sitzt der Junge im Lotussitz auf dem Bett des Professors und vertreibt sich anscheinend schon seit einer ganzen Weile die Zeit mit Kabala Bati , denn er sieht aus, als könnte er jeden Moment ohnmächtig werden. Obwohl ich es ihm schon tausendmal verboten habe, verschließt er bei der reinigenden Wechselatmung, kaum dass man ihn ein paar Minuten aus den Augen lässt, beide Nasenlöcher zugleich, und seit Dr. Holm neulich diese blödsinnige Luftanhalterei in bösem Scherz Apnoe-Pranayama oder auch Pranayama Verkehrt genannt hat, kann der Junge gar nicht mehr genug davon kriegen. O.W. unterbricht aufstöhnend seine Bügelarbeit, reißt Evelyn die Hand von der Nase und gibt ihm routiniert eine Ohrfeige, schätzungsweise die zehnte heute, und Evelyn reibt sich in apathischem Vergnügen wimmernd die Wange.
    Mein Lachen ist vergangen, steif betrete ich das Zimmer, alle drei schauen offenmündig zu mir auf, und so halte ich mich respektabel knapp oder eher knapp respektabel:
    »Gut, gehen wir essen.«
    »Nein nein nein«, der Professor wedelt energisch mit dem Zeigefinger. »Diese Übung lassen wir heute mal ausfallen, wir überspringen das Abendessen, ohnehin unreinlich, diese späte Stopferei. Und überhaupt sehe ich nicht länger ein, meine armen Lieben, der Himmel hab’ sie selig, nur wegen des dummen 360-Grad-Feedbacks am runden Tisch jeden Abend von neuem verzehren und so jede Nacht mit diesem krampfenden Kotdarm einschlafen zu müssen. Nein, altes Aas, überlassen wir das Abendessen den glattgestirnten Hyänen. Wir werden also sofort aufbrechen!«
    »Aber … aber«, ich streiche mir über die plötzlich nasskalte Stirn, »sollten wir nicht so lange wie möglich die Ordnung … uns sehen lassen und … und ich muss doch dem Jungen was zu essen geben.«
    »Nein, müssen Sie nicht«, der Professor erhebt sich und klopft mir mitfühlend auf den Arm. »Sie müssen ihn wegbringen, sonst nichts.«
    »Aber sollten wir nicht wenigstens warten, bis es Nacht ist, in solchen Situationen sollte man doch wohl gehen, wenn’s am dunkelsten ist, oder nicht?«
    »Nein, Hoher Wolf geht, wenn es Zeit ist. Er kennt seine Stunde wie seine Westentasche. Und Sie sind sowieso ein toter Mann und Toter Mann läuft, wann es ihm gefällt. Nichts kann ihn dann mehr aufhalten. Und außerdem«, er pocht, während er den Daumen der rechten Hand lässig in die Uhrtasche seiner Weste einhängt und den Brustkorb in eine angeberische kleine Rückbeuge hebt, mit dem linken Zeigefinger auf sein Schachbrett, »habe ich die Partie wieder und wieder studiert, während Sie sich beim Kernanatom Tulp vergnügt haben, und es besteht gar kein Zweifel, wie die Sache zu lesen ist. Der Junge hat die Linie so klar gezogen, schauen Sie, er hat seinen Turm sofort in Bewegung gesetzt, sofort, ohne zu zaudern, und auch seine Läufer hat er waghalsig mit den ersten Zügen ins Feld geschickt, und nicht erst, als ich ihm den Springer auf die Brust gesetzt habe. Wir gehen also jetzt gleich, keine Widerrede.«
    Ich nicke idiotisch auf das Brett herab, und vor meinen Augen verdunkelt sich alles, was aber nichts macht, weil ich die Figurenanordnung ohnehin nicht verstehe. Kurz bevor das Bild ganz schwarz wird, nimmt Evelyn meine Hand:
    »Du brauchst keine Angst zu haben, Papa, es wird schon alles gut gehen.«
    »Hm.«
    »Na los, Satanssonde, grüner wird’s nicht!«
    Der Professor schiebt mich zur Tür hinaus, auf dem Flur schaue ich teilnahmslos zu, wie er und Evelyn sich kichernd ihre Opium-Rhabarber-Flaschen selbst auffüllen, was Patienten natürlich strengstens verboten ist. Langsam drehe ich den Kopf noch einmal zum Zimmer zurück, aus dem O.W. mir seinen kleinen, hellblauen Abschied zuzwinkert, und lächelnd und mit schwerer Hand winke ich zurück. Dann endlich nehme ich mich zusammen. Obwohl Referent nirgends mehr auffindbar ist, finde ich doch noch einmal in seinen ärztlichen Gang zurück, und Patienten haben Mühe, mit mir Schritt zu halten.
    Nun aber schleunigst zum Ausgang finden … zum Ausgang? Dazu müsste man erst mal wissen, wo er ist! Mir scheint tatsächlich fast zwanzig Jahre lang gar nicht aufgefallen zu sein, dass ich nicht weiß, wo der Ausgang ist. Aber

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