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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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wozu hätte mich das auch interessieren sollen? Natürlich wusste ich sehr wohl, wo der Ausgang ist, beziehungsweise wo die Ausgänge sind: Man kommt entweder über die Speiseterrasse oder über die Terrasse vor Dankeviczs Büro raus. Mal raus auf die Wiese, zufrieden blinzelnd die Finger durch das weiche Gras gleiten lassen, und dann wieder zurück, weiter will keiner hinaus, wozu auch? Einen anderen, den anderen Ausgang gibt es selbstverständlich nicht, auch die Entlassungen regeln wir hausintern. Personal-, Patienten- und Wareneingang sind alle drei Einwegschleusen, seit es hier keine Ambulanten mehr gibt, und ich verstehe wirklich nicht, auf welchem Weg Esther hier mindestens zweimal rein und wieder raus spaziert ist, als wäre sie nichts. Aber das spielt jetzt keine Rolle, Esthers Katzenklappe würde ich ohnehin nie finden, ich muss mich also entscheiden, was riskanter ist, vor aller Augen die Speiseterrasse zu überqueren, oder Dankeviczs um diese Stunde höchstwahrscheinlich verschlossenes Büro aufzubrechen und womöglich sogar seinen Wachpfleger niederschlagen zu müssen. Beides ausweglos selbstverständlich, also eines so gut wie das andere. Um uns alle drei über meine Ratlosigkeit hinwegzutäuschen, rase ich zielstrebig den nächstbesten leeren Flur hinunter, aber Evelyn wittert meine Hasenfüßigkeit:
    »Wo ist der Ausgang, Papa? Wie kommen wir hier raus?«
    Bevor ich ihm antworten könnte oder wohl eher müsste, stocken wir – ganz hinten, fast am Ende des Gangs kommt jemand um die Ecke gebogen und eilt uns wieselartig entgegen. Beim Näherkommen erkenne ich Pfleger Pflüger. Der Professor drückt mir seine Hand hart gegen das Schulterblatt und zischt leise durch die Zähne:
    »Einfach weitergehen, nicht stehenbleiben, nicht langsamer werden, einfach weiter …«
    Meine Beine geraten wieder in einen recht passablen Trab, und obwohl ich kittellos bin, nur im Abendanzug, gelingt es mir sogar, halbwegs arrogant an Pfleger vorbeizusehen, schon ziehen wir an ihm vorüber, gleich geschafft, aber da hält er uns an, stellt sich mir unverschämt bucklig in den Weg:
    »Oh, Herr Dr. von Stern, Sie habe ich schon überall gesucht.«
    »Ah ja, was gibt’s? Ich hab’s eilig, also …«
    »Ja, entschuldigen Sie, Herr Doktor, es ist nur, weil ich heute Nacht auf Ihrem Flur die Hygieneschicht für Sie übernehme, wegen Ihrer Befreiung von allen … äh …«
    »Ja, und?«
    »Ich fragte mich nur … äh …«
    »Herrgott, was denn?« Evelyn berührt mich kurz am Ellenbogen, und so wiederhole ich etwas gezügelter, fast freundlich: »Was ist es denn, Pflüger?«
    »Oh, äh … es ist nur …, Herr Lewandowski, was bekommt er noch mal, Fußreflex oder Fellatio?«
    »Na beides natürlich, und sehen Sie zu, dass Sie’s stufenlos ineinander übergehen lassen, unmerkliche Übergänge, verstehen Sie? Aber trotzdem schön gründlich alles, sonst muss ich in zwei Stunden schon wieder jemanden zu ihm schicken, und dann mache ich es lieber gleich selbst, verstanden?«
    »Jawohl, Herr Doktor, ich werd mir Mühe geben.«
    »Gut.«
    Der erste Kelch ist an uns vorübergegangen. Evelyn spürt meine Erleichterung und fragt noch einmal, diesmal aber in unangemessener Heiterkeit:
    »Wo ist denn jetzt der Ausgang, Papa? Sind wir bald da?«
    »Ähm … ja, noch nicht ganz. Wir müssen noch ein Ründchen drehen, wir haben noch keine Ausflugserlaubnis bekommen.«
    »Ach, ist das wahr, großer Kurator?«
    »Ich steck Sie zurück ins Bett, Professor, kann ich immer noch machen. Kommt kommt, nicht so lahm, ihr beiden! Wir müssen noch ein bisschen tiefer hinein ins Innere.«
    »Aber wieso denn das?« Evelyn bleibt verwirrt stehen. »Wieso denn noch weiter hinein, wenn wir doch hinaus wollen?«
    »Ja, das … äh … wirst du schon noch irgendwann verstehen.«
    Der Professor lockert schnaufend seine Krawatte, stützt sich gegen die gläserne Flurwand und murmelt Evelyn kopfschüttelnd zu:
    »Dein idiotischer Vater hofft, dass es irgendwo tief da drin, im Herzen der Station noch einen Ausgang gibt, einen richtigen Ausgang, obwohl jedes Kind weiß, dass das nicht der Fall ist.«
    Evelyn lehnt sich neben dem Professor an die Wand, öffnet schwer atmend den Mund und legt den Kopf weit zurück in den Nacken, als wolle er seinen Hinterkopf in die Glaswand wie in flüssigen Harz eintauchen lassen. Dann beugt er minimal, aber gefährlich die Knie. Kurz bevor er sich an der Wand entlang in die Hocke sacken lässt, klatsche ich zweimal laut in die

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