Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Hände:
»In Ordnung Leute, alles bestens, wir wollen uns nicht gehen lassen jetzt. Wer sich jetzt hinsetzt, steht nicht mehr auf, also gehen wir weiter, bitte!«
Patienten nicken lahm, ich nehme sie an die Hände und ziehe sie weiter mit mir ins Innere hinein. Dabei plappere ich mit unerträglich vergnügter Stimme auf sie ein:
»Links herum und rechts herum, ach das ist doch … Wie auf einer treppenförmig gezackten Linie werden wir immer weiter hineinkommen, schauen Sie nur, Professor, die schöne warme Abendbeleuchtung auf allen Fluren, wir können durch die ganze Station hindurchsehen wie durch einen Kristallleuchter!«
»Ja genau, alles bricht sich an allem, Sie Blindschleiche, schauen Sie, meine Damen und Herren, schauen Sie, Sie sehen nichts!«
»Na, wenn Sie einen besseren Weg wissen, nur zu! Und überhaupt, Sie könnten ja auch endlich mal Ihren Plan rausholen, Professor.«
»Nein, nicht nötig«, er zieht gereizt seine Hand aus meiner und tippt sich affektiert an die Stirn. »Alles hier drin, vom Anfang aller Tage bis zum bitteren Ende. Und deshalb weiß ich auch, dass wir jetzt nicht wieder rechts, wie es Ihre gezackte Diagonale vorsieht, sondern noch ein zweites Mal links abbiegen müssen, sonst schießen wir übers Ziel hinaus. Wir müssen nur noch hier um die Ecke, und schon sind wir im Allerwertesten, ich meine, im ärztlichen Innersten. Sie gestatten, Ficksau?«
Er hüpft mir vor die Füße, übernimmt tänzelnd die Führung, biegt in die nächste linke Abzweigung und wirft sich dabei mit dem Oberkörper weit in die Kurve, als säße er auf einem Motorrad. Zögerlich folge ich ihm und schleife den kaum noch hörbar vor sich hin wimmernden Evelyn hinter mir her. Tatsächlich mündet der schmale Flur schon nach wenigen Metern in einen der runden Lichthöfe, von denen es einige, ich glaube sieben oder acht, auf der Station gibt.
Um diese Uhrzeit sind die Lichthöfe freilich eher Dunkelhöfe, abends und nachts hofieren sie die Dunkelheit. Als Weihestätten des Sonnenvaters, ganz der wechselhaften Gnade seines Lichts anheimgegeben, sind sie dann erfüllt von seiner mächtigen Abwesenheit, und jede nächtliche Atemübung wird in ihnen automatisch zum demütigen Gebet um seine Wiederkehr. Manche Patienten stehen in diesen Höfen nachts stundenlang in Tadasana herum. Die Arme und Augen nach oben gerissen, jammern sie leise und doch fordernd, der Sonnenvater möge sich doch bitte wenigstens kurz, nur für eine Sekunde am dunklen Firmament in einem seiner Sterne zu erkennen geben und ihnen Hoffnung auf einen morgigen Tag schenken. Anscheinend kommt er ihren Bitten, ganz gemäß der Hausordnung, Keine unserer Übungen ist verlorene Liebesmüh , in schöner Regelmäßigkeit nach, denn das bange Gemurmel wird immer wieder unterbrochen durch kleine beglückte Aufseufzer. Derlei überkommene Zeichensucht mag man als frömmlerische Kleingläubigkeit oder eher Kleingeistigkeit der Patienten abtun, und der Professor würde sagen, dass die Aufnahme des Sonnenvaters in den Stiftungsrat der Klinik ohnehin de iure hochproblematisch sei, aber in den wirklich schlimmen Nächten kann man einfach nicht anders, als sich mit den Augen nach oben zu flüchten, in den Sternenhimmel hinauf, den man nur von diesen Höfen aus frei zu sehen bekommt, da sie die einzigen Räume der Klinik sind, die nicht mit einer durch die nächtliche Notbeleuchtung immer leicht verspiegelten Glasdecke überzogen sind.
Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an diese seltsam dunkle Lichtung im Glaswald zu gewöhnen, und ich frage mich, in welchem der Höfe wir hier sein mögen. Doch dann erkenne ich plötzlich in der Mitte des Raums die luxuriös breite und dick mit feinstem und glättestem weißem Leder gepolsterte, von einer kleinen Nachttischlampe sanft beleuchtete, dreigliederige Liege, anatomisch entgegenkommend, bereit, Kopf, Rumpf und Unterkörper aufzunehmen, eine unwiderstehlich diskrete Einladung, sich auf den Bauch zu legen und das Gewicht der Welt loszuwerden, das müde Gesicht tief in die ovale Öffnung im Kopfteil sinken zu lassen wie in einen sanft nachgiebigen Rahmen, in dem dein Bild in die Quelle deines Selbst zurücktaucht, und nun kannst du den entlasteten, endlich butterweichen Nacken ganz den warmen Händen deines Arztes überlassen.
Noch immer will ich meinen Augen, die da seelenlos auf der glatten kühlen Liege ruhen, nicht trauen, aber schließlich muss ich mir mit einem vagen Schamgefühl eingestehen, wo wir
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