Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
ins Innere gehen wollte, warum sie überhaupt glaubte, man könne ins Innere gehen, hat sie sich die alte Festung dann, als wir da waren, nicht einmal angesehen. Ein einziges Mal waren wir tagsüber dort, eine Woche nach unserer Ankunft in Bachtschissaraj, und sie wollte sich noch nicht mal die berühmten Höhlen Khamman-Koba und Sakyz-Koba anschauen, nicht die Kenassen und die Moschee, nicht den alten Eimer-Brunnen, die unterirdischen Verliese, gar nichts. Obwohl oder gerade weil man hier ungehindert umherstreifen konnte, wollte Esther, nachdem wir in das verwaiste Holzhäuschen hineingeschaut hatten, an dem man früher seinen Eintritt bezahlt hatte, sofort wieder nach Bachtschissaraj zurück. Durch die verdreckten, an einer Seite eingeschlagenen Glasscheiben sah man auf dem Tisch die verstaubte und ausgeblichene rosafarbene Abreißrolle mit den Billetts, daneben eine geblümte Kaffeetasse mit eingetrockneten Flecken auf der Untertasse, die auf einer vergilbten altmodischen Zeitung stand, an deren unterem Rand ein hellblondes Mädchen, das laut Untertitelung die Königin der Ukraine war, auf einem Schaffell kniete und den Mund weit aufriss, anscheinend in grenzenlosem Erstaunen darüber, gerade nackt fotografiert zu werden.
Anders als den Khanspalast und das Marienkloster hatte die Klinikverwaltung Tschufut-Kale nicht übernommen, sondern den Einheimischen und damit sich selbst überlassen, denn ohne die Unterstützung der Klinikverwaltung nutzte auch ihnen die Ruinenstadt nichts. Was sollten sie anfangen mit einem Ort, zu dem man ihnen keine Patienten raufschickte? Also lebte nicht nur in den Höhlen, die im Mondlicht aussahen wie die Augenlöcher eines vieläugigen Schädels, sondern auch in den Häusern niemand mehr, selbst die Leute von der ethnographischen Stiftung waren verschwunden, und so verfiel langsam alles. Davon wussten wir freilich nichts, als wir von Jalta aus ins Innere reisten, es dämmerte uns erst, als wir durch die Glasscheibe auf die Königin der Ukraine starrten.
»Was habe ich mir bloß dabei gedacht?« Niedergeschlagen drehte Esther ihr den Rücken zu. »Ich bin so dämlich, wie konnte ich nur glauben … Wir fahren zurück, wir fahren sofort nach Jalta zurück, du gehst nach Kertsch und ich werde zurück …«
»Halt den Mund, wir sind hier, und jetzt bleiben wir hier.«
Unschlüssig schüttelte sie abwechselnd den Kopf und zuckte die Achseln, bis ich sie an die Hand nahm und wie ein krankes Tier weg von dem Häuschen führte. Am Hang vor der Stadtmauer setzte ich sie ins Gras und in die Sonne.
»Du wartest hier, und ich schaue mir die Stadt kurz an, dauert nicht lange, ich glaube, sie ist noch nicht mal einen Kilometer lang, ich laufe nur ganz schnell einmal durch, ja?«
Esther nickte stumm der Steppenraute zu, die sie mechanisch auszurupfen begann, ich küsste sie fest auf den Kopf, und eilig lief ich davon.
Ich weiß nicht genau, warum ich überhaupt noch unbedingt durch dieses nutzlose Tschufut-Kale rennen musste. Was wir von ihm gesehen hatten, nämlich nichts außer einem Häuschen, an dem man keinen Eintritt mehr zahlen konnte, reichte vollkommen aus, um zu wissen, dass es kein Ort für uns war. Wahrscheinlich musste ich es mir nur deshalb anschauen, weil wir es nun einmal so geplant hatten und ich sonst in gefährlichen Leerlauf geraten wäre. Einmal durchmarschieren, sodass wir auch diesen Plan ad acta legen, ihn begraben konnten auf einem dieser unsympathisch vielen Friedhöfe, die einen damals in dieser Gegend noch auf Schritt und Tritt verfolgten, fast wie die streunenden, oft tollwütigen Hunde. Ja, eine formale Abnahme machen, darum ging es.
Also hetzte ich wie ein geschäftig dreinblickender, tatsächlich aber vor Stumpfsinn halbblinder Verwalter, dem die Interessen seines Gutsherrn in Wirklichkeit herzlich egal sind, auf dem mittleren der drei Hauptwege durch den noch älteren Westteil der von allen guten Geistern verlassenen Höhlenstadt, nickte mit ignorant anerkennendem Lächeln den in sich zusammengefallenen Gebetshäusern zu, als sei allein ihre Anwesenheit doch löblich, und stieg dann auf das Plateau, auf dem einst der Marktplatz gewesen war. Dort lief ich um das mit einem seltsamen Pilzgeflecht ganz zugewachsene Mausoleum herum und dachte, dass es doch ein Jammer sei, dass eine Stadt, die im 15. Jahrhundert immerhin einmal die Hauptstadt des Krimkhanats gewesen ist, in solch einem Zustand war. Zugleich aber, und ohne dass mir dies als ein Widerspruch erschien,
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