Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
in ein grünrötliches Nichts auflöste, kam ich zu mir und rannte zurück, in panischer Angst, du könntest verschwunden sein.
45.
Esther hatte sich gar nicht vom Fleck gerührt, nur saß sie nicht mehr, sondern stand, die Hände brav auf dem mir zugedrehten Rücken gefaltet und eifrig nickend, einer alten Frau gegenüber, die sich mit der einen Hand auf einen Stock stützte, an dem eine weißrot gemusterte Plastiktüte baumelte. Die freie Hand ließ sie am lang ausgestreckten Arm in zitternden Drehbewegungen über die Wiese wogen, und derart mal in diese, mal in jene Richtung weisend, erklärte sie meiner armen Esther, die dem schwimmenden Wegweiser kopfwackelnd mit dem Blick folgte, anscheinend urbem et orbem . Ich stand in etwa zwanzig Metern Entfernung an der Mauer, mit vornübergebeugtem Oberkörper, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, keuchte vor Erleichterung und Seitenstichen und beobachtete die beiden.
Die alte Frau trug das übliche buntgemusterte Kopftuch, das auch die ältesten Frauen hier hübscherweise nicht unterm Kinn, sondern bauernmädchenhaft am Hinterkopf knoten, außerdem trug sie einen fleckig gebleichten, engen Jeansoverall, in dem ihr dicker Bauch sicher wie ein Kängurujunges ruhte. Während sie unablässig auf Esther einredete, die für sie eine kuriose Erscheinung sein musste, klinische Fremde und doch auch Einheimische oder zumindest halbe Einheimische, holte sie immer wieder irgendein Kraut aus ihrer Plastiktüte, bot es Esther an, die es natürlich annahm, wie sie immer alles annahm, besonders, wenn es von zweifelhafter Reinlichkeit war – lieber drei Tage kotzen als einmal Nein sagen –, und schob sich dann selbst etwas davon in den Mund, kaute eine Weile darauf herum und rotzte dann auf den Boden wie ein frustrierter Fußballspieler. Dieses wütende oder eher wie vom öden Fatum angewiderte Ausrotzen stand in seltsamem Widerspruch zu ihrem milden Gesichtsausdruck und ihrer heiteren Rede, die dahinfloss in einem Kauderwelsch aus einem ungewöhnlich weichen Russisch und, wie Esther mir später erklärte, Kypchak-Tatarisch.
Schließlich hatte mich die Alte da oben entdeckt hinter Esther, die sich nun schwungvoll zu mir umdrehte und erleichtert lächelte. Ich lief hinab und legte, der alten Frau zunickend, meine Hand glücklich in Esthers Nacken. Esther stellte mich als ihren Mann vor, und die Frau machte komödiantisch große Augen, musterte mich abschätzig von Kopf bis Fuß, sprach dann aufgeregt auf Esther ein und wies dabei immer wieder mit dem Kinn auf mich. Esther lächelte nur halb ironisch, halb verlegen. Weil sie so hartnäckig lächelte und schwieg, machte die Frau schließlich eine resigniert wegwerfende Handbewegung, sah uns beide kopfschüttelnd an, sagte seufzend Kinder, Kinder! , tätschelte Esther noch einmal die Schulter und stieg dann schwerfällig o-beinig und noch immer kopfschüttelnd den Hügel hinab.
»Was hat sie gesagt? Ich hab nur Bruchstücke …«
»Ach, das Übliche. Dass es ungesund ist, zu heiraten. Dass ich zu dünn bin, dass vor allem aber auch du zu dünn bist, was weitaus schlimmer ist, so dünn wie die Männer damals in Sibirien, wohin sie als kleines Kind mit ihrer Mutter als angeblicher Vaterlandsverräterin auf dem Viehwagen verschleppt wurde, während ihr Vater noch für dieses Vaterland kämpfte, und von wo sie erst vor dreißig Jahren wieder hierher zurückkehren konnte. Dass damals, als sie zurückkam, drüben an der anderen Küste in Abchasien und Georgien noch Krieg war und eigentlich überall, andauernd irgendwo, dass mal die Russen sich um die Grenzen gekümmert und doch nicht richtig gekümmert haben, und dann wieder jemand anders, die Leute aus Kiew, die aber nie Zeit hatten, weil sie sich den ganzen Tag in ihrem Parlament ohrfeigten, und dann die Leute aus Brüssel, die aus den gleichen Gründen keine Zeit hatten. Dass andauernd irgendwo Olympische Spiele stattfanden, weshalb die Grenzen zwar schön gepflegt wurden, aber doch auch ein schreckliches Chaos herrschte, weil kurz darauf von weit aus dem Süden so viele Leute über den Bosporus hochkamen. Dass es gut ist, dass mit all dem Schluss ist, seit die Klinikverwaltung die Krim übernommen hat und alle Grenzen friedlich pflegt, und dass es gut ist, dass die Klinischen hier leben und so alle Kinder die Ujjayi -Atmung lernen und die Alten ihre Mula-Bandhas wieder aktivieren können, aber dass wir Klinischen zu dünn sind und das ganz ohne Not, und das ist nicht gut. Das
Weitere Kostenlose Bücher