Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
Vom Netzwerk:
dachte ich, dass es mir egal ist, dass das Mausoleum so zugewachsen ist und man die Inschrift, die hier irgendwo sein musste und die mir hätte sagen sollen, dass dort drin die Tochter des Khans liegt, nicht einmal finden konnte, da ich die arabischen Schriftzeichen ohnehin nicht entziffern könnte. Und selbst wenn ich’s könnte, dachte ich, wär’s mir egal, denn ich interessiere mich sowieso nicht für Inschriften, nicht auf Tür- und Torbalken, nicht auf Grabsteinen, nirgendwo, nicht im Geringsten, und du interessierst dich auch nicht für sie! Obwohl du immer wieder versuchst, so zu tun, als würden sie dich interessieren, nur weil du sie besser entziffern kannst, sind sie dir dennoch genauso egal wie mir, denn es steht ja doch immer nur das da, was wir erwarten. Und wann immer du mir eine dieser Inschriften vorgelesen hast, langsam, stockend und doch klar wie ein Medium in Trance eine zusammenhanglose Reihe von stolz ungebeugten Worten herausbrachtest, die du dann mit dem üblichen erleichterten und belanglos befriedigten Ausdruck in einen sinnvollen Satz gefügt hast, habe ich nur borniert die Achseln gezuckt, wen zum Teufel … , und du hast gelacht über mich, aber dabei genickt. Ja, was interessiert uns dieses alte Zeug! Es hätte sich ja auch im Leben nicht für uns interessiert.
    Du glaubst doch eigentlich ebenso wenig an Archäologie wie ich, keinen Deut mehr als an die idiotische Intra-Restauration, die wir in Jalta halbjährlich zu absolvieren hatten, und bei der sie uns, während wir versuchten, uns in uns zu versenken und in einem hochkonzentrierten Monitoring unser limbisches System neu zu starten, zur Unterstützung immer wieder sagten, nichts in unserem Inneren ginge jemals verloren. Wir sollten uns vorstellen, dass in uns das alte Rom restlos geborgen läge und zugleich mit dem neuen Rom aufs Harmonischste verwoben sei, das Neue lagere sanft und bequem auf dem gutmütigen Alten. Oder wir sollten uns vorstellen, wir seien ein Archiv, in dem nie irgendetwas verloren ginge, nicht eine einzige Akte. Es war schon allein deshalb schwer möglich, an derlei Unsinn zu glauben, weil wir diese grotesken Architekturen und übervollen Aktenschränke in uns ausschließlich zu dem Zweck aufrufen sollten, regelmäßig den Reichtum vom Ramsch zu scheiden und unsere Gliazellen anzuhalten, den Müll rauszukehren und Platz zu schaffen für Neues. Einen ständigen Kehraus sollten wir veranstalten und zugleich im Kopf behalten, dass prinzipiell nichts dabei verlorenginge. Wir säuberten uns also rund um die Uhr und brauchten dennoch keine Angst zu haben, mal versehentlich dabei etwas Wertvolles in den Schredder zu werfen, denn es stand schließlich gar nicht in unserer Macht, auch nur eine einzige unserer Akten zu vernichten – zum Glück, denn man weiß ja nie, wie man sie noch mal gegen sich verwenden kann.
    All dieser Dreck in mir verband sich diffus mit dem Staub von Tschufut-Kale, und als ich um das Mausoleum herumlief und von dort aus weiterrannte, vorbei an dem Schutthaufen, der einmal das Haus irgendeines wichtigen karäischen Gelehrten gewesen war, packte mich die Wut. Auch hier wollte ich nicht stehenbleiben, keine verdammte Inschrift auf irgendeinem schräg herabgestürzten, vermoderten Querbalken lesen, oh nein, und ich verfluchte dich laut und mich noch lauter, dass ich deinetwegen durch eine verdammte Ruinenstadt rannte, statt einen sauberen Schnitt gemacht zu haben und nun als Assistenzarzt oben an der Meerenge von Kertsch auf den weißen Fluren der Grenzklinik zu wandeln, weißer noch als Puschkins Winter, alles ist klar, alles ist weiß ringsum , Schritt für Schritt nach oben, raus aus diesem Drecksleben, dieser sinnlosen Zerfleischung.
    Erst als ich erschöpft am neueren Osttor angekommen war, kam auch meine Raserei zum Stehen. Schwer atmend, die Hand in die rechte Seite gestemmt, schaute ich die Felshänge hinab, auf die in der Nachmittagssonne leuchtend wogenden Wiesen und beschloss in überklarer Ruhe, dass ich dich sitzen lassen würde, dort drüben auf der anderen Seite. Nicht nur für mich, auch für dich wäre es das Beste, nur so hättest auch du noch eine Chance, ich würde einfach verschwinden, und wir könnten beide von vorn anfangen.
    Eine ganze Weile muss ich in tauber Entschiedenheit vor mich hin genickt haben. Doch als der Gedanke, von dir wegzugehen, langsam in mir Gestalt annahm, die annähernde Gestalt einer tatsächlichen Vorstellung, sodass sich die Landschaft vor meinen Augen

Weitere Kostenlose Bücher