Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
lassen.
»Die ganze Zeit frag ich mich, ob sich da oben unter diesem Dach das Orientalische mit dem Schwarzwald oder aber mit dem Schweizer Wallis kreuzt. Aber freilich ist beides Unsinn«, er lachte wieder. »Man wird nur durch die Fensterläden irregeführt. Und dann ist’s mir gerade als du vorbeikamst gekommen: Das ist natürlich bayrisch orientalisch!«
»Hm?«
Ich trat neben ihn und legte leicht verwirrt den Kopf in den Nacken, aber dann verstand ich, was er meinte:
»Du meinst wegen dem bayrischen Taubenblau, mit dem die obersten Fenster ummalt sind?«
»Genau, und auch dieses Gelb. Aber es sind nicht nur die Farben, schau dir die Muster an, wie sich die tatarischen Zierwappen bayrisch verzwiebeln, das Ornament hat nichts Mäanderndes, geschweige denn Arabeskes, es ist eine bayrisch-orientalische Bauernmalerei. Ich hab’s ja immer gewusst, die Khansarchitekten im Sechzehnten haben das Bayrische Barock erfunden!«
»Ja genau«, ich lächelte, »nur dass das Krim-Tatarische nie was Arabeskes hat und auch das Arabische eigentlich nichts Arabeskes hat im Sechzehnten, und dieser Teil des Palasts im Brand von 1736 zerstört und erst 1759 wiederaufgebaut wurde, und die Malerei hier drei Mal wieder von dem herrlichen neuen Kalkstein abgewaschen wurde, bevor sie im Neunzehnten von ein paar fleißigen französischen …«
»Jaja, schon gut. Aber es wäre doch lustiger so rum, oder nicht?«
»Kann sein …«
»Kirsche?«
»Danke.«
»Danke ja oder Danke nein?«
»Danke nein.«
Aber ich musste lachen und nahm doch eine und dann noch eine. Eine Weile spuckten wir abwechselnd Kirschkerne und Fachsimpeleien über Architektur und Malerei aus, wovon wir, wie ich abschließend bemerkte, beide keine Ahnung hatten. Er nickte lächelnd:
»Ja, das stimmt, aber es ist eine hübsche Ablenkung, wenn man da oben in Kertsch achtzehn Monate am Stück Tag und Nacht operiert hat.«
Er spuckte seinen Kirschkern plötzlich wütend aus und schwieg, was mich verlegen machte, und unbeholfen fragte ich:
»Ist es sehr schlimm da … ich meine … es ist sicher sehr belastend …?«
Er zuckte lächelnd die Achseln und musterte mich:
»Deine Haare sind tatsächlich so schön irisch schwarz, nicht? Oder sind sie doch gefärbt?«
»Lenk nicht ab«, ich grinste müde. »Wenn du nichts erzählen willst, ist das ja in Ordnung …«
»Ach Gott, nein, da gibt’s nichts nicht zu erzählen«, er zuckte wieder die Achseln, verdüsterte sich aber, als er zu Boden blickend weitersprach: »Man denkt, man kriegt dort an der Meerenge von Kertsch die schlimmsten Dinge zu sehen, grauenhafte Verletzungen oder dauernd halb Ertrunkene, und das ist ja auch so, aber zugleich kriegen wir diese Leute gar nicht zu sehen, obwohl wir sie freilich tagtäglich sehen, also, wie soll ich das sagen … Wir flicken sie wieder zusammen und helfen ihnen so, wieder zurückzugehen, bleiben können sie nun mal nicht, was können wir anderes tun, da wir so viel anderes zu tun haben. Die eigenen Patienten werden von Tag zu Tag mehr, schließlich muss das Leben in seinen labilen Grenzen salutologisch von innen gestützt werden, und ob man einen Arm amputiert, der da draußen irgendwo in eine Schiffsschraube geraten ist oder danach den eigenen Leuten Öl über den Kopf gießt …, es hört sich seltsam an, aber nach einer Weile sieht man den Unterschied nicht mehr – rede ich wirr?«
»Nein, gar nicht.«
»Ich bin übrigens Dr. Neethling – Christian, wenn du willst.«
Er streckte mir lächelnd seine Rechte entgegen. Ich fühlte mich leicht überfahren von seiner offensiven Offenherzigkeit, durch diese Offenherzigkeit aber eben doch nur federleicht überfahren, und mit einem vagen und daher umso unangenehmeren Gefühl von Verrat stellte ich in den nächsten sieben Wochen, die er noch hier blieb, bis er zurück nach Kertsch musste, und in denen wir uns täglich sahen, unverabredet verabredet, um ein Stündchen zu plaudern oder gemeinsam ein paar Bahnen zu schwimmen, fest, wie erleichternd es für mich war, mit einem anderen Menschen als mit Esther zu sprechen und schwerelos schweigend neben jemandem zu sitzen – wie erleichternd ist es, jemanden nicht zu lieben! Wie gut man sich versteht, wenn man nicht weiter darauf achtet, dass man jemanden nicht so richtig versteht. In dieser Schwerelosigkeit, von der ich sehr wohl begriff, dass sie ein gefährlicher Trug war, mich noch unfreier machte, war ich mir umso gewisser, dass ich nur mit Esther frei sein konnte, nur
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