Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
ich weiß nicht, wie viele Liter warmes Öl ich allein in den ersten drei Monaten über wie viele Stirnen gegossen habe, wie viele meiner Hände ich auf Steiß-, Brust- und sonstige Beine und Gebeine wie vieler auf- und abschauender Hunde gelegt habe, da musst du hin, da, spürst du das? , und wie oft ich diesen armen Hunden zu ihrer inneren Aufrichtung gut zugeredet habe:
»Die Augen haltet noch für einen Moment geschlossen, und wenn ihr sie dann gleich öffnet, bleibt euer Blick doch nach innen gerichtet, alle störenden Geräusche da draußen nehmt ihr nun nicht mehr wahr, werdet achtsam euch selbst gegenüber, bedankt euch bei euch selbst, verneigt euch vor euch selbst!«
Ja, so hätte es sich aushalten lassen, was auch immer da noch zum Aushalten übrig gewesen wäre, aber nach drei tapferen Monaten hielt Esther es einfach nicht mehr aus und sprang aus der Spur. Im Morgengrauen eines kalt regnerischen Dezembertages setzte sie sich, statt gemeinsam mit mir zur Arbeit zu gehen, nach draußen auf die Terrasse auf einen der vollgesogenen Holzstühle, zog sich mit hochgezogenen Schultern ihre graue Strickjacke enger um den Körper, und als ich hinter ihr herkam und sie verwirrt anstarrte, sagte sie nur fröstelnd:
»Ich geh nicht. Ich erklär’s dir heut Abend. Nun geh schon, geh!«
Doch als ich abends nach Hause kam, war sie gar nicht da. Ich lief in der Wohnung auf und ab, versuchte meine Sorge um sie durch meine Wut auf sie klein zu halten, und als sie irgendwann gegen Morgen sturzbetrunken ins Schlafzimmer getorkelt kam, habe ich mich schlafend gestellt, aus Furcht, ich könnte sie tatsächlich verprügeln. Erst am darauffolgenden Abend teilte sie mir in ein paar dürren Sätzen mit, dass sie ihr Studium nicht abschließen werde, dass sie sich bereits abgemeldet habe. Als ich sie fragte, ob sie aufhöre, weil sie in einem Grenzklinikgebiet als Frau und noch dazu als halbe Einheimische nun mal nicht als Ärztin arbeiten dürfe, hat sie nur müde gelächelt und gesagt, dass das schließlich noch das einzig Gute daran gewesen sei. Und auf die Frage, was sie dann jetzt tun wolle, da wir nun mal nichts anderes sein könnten als Heiler, hat sie ebenso müde nur die Achseln gezuckt und mal sehen gemurmelt – was immer es da noch zu sehen geben sollte.
Das Schlimme war nicht, dass sie ihren Heilsweg abbrach, mochte das auch unangenehme Folgen für mich haben, sondern dass sie diesen Entschluss mir nur noch mitteilte, ihn nicht mehr mit mir besprach, geschweige denn mich noch für wert erachtete, mich mit aus der Spur zu nehmen. Das Schlimme war nicht, dass sie zu mir gesagt hatte Ich geh nicht , sondern Nun geh schon, geh! Natürlich tat sie recht daran, mich aufzugeben, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hast du es auch nur mir leichtmachen wollen, dich aufzugeben.
Danach hätte irgendetwas geschehen müssen, es geschah aber nichts. Die nächsten sechs Monate lebten und schliefen wir friedlich nebeneinander, sahen uns kaum, weil Esther meist noch schlief, wenn ich aufstand, und ich schon schlief, wenn sie nach Hause kam, nachts besprach ich mich ungestört mit Referent im Spiegelschrank so lang ich, also er, wollte, Esther schien es nichts mehr anzugehen, und wenn ich sie bei unseren seltenen Begegnungen im Vorübergehen fragte, was sie den ganzen Tag so gemacht hatte, sagte sie immer nur leichthin Ach, ich war schwimmen . Tatsächlich war sie wohl immer in irgendeinem der Bäder schwimmen, als meine Frau hatte sie nach wie vor Zutritt zu den Anlagen und war wohl überhaupt noch eine Weile geschützt, auch wenn man freilich nicht wissen konnte, wie lange noch. Durch die manische Schwimmerei war sie mittlerweile so dünn geworden, dass es mir noch leichter fiel, durch sie hindurchzusehen, doch dank der einfühlsamen Andeutungen meiner Kollegen wusste ich, dass sie nicht nur schwimmen ging, sondern mit irgendwelchen Leuten am Hafen rumhing. Aber selbst das war kein Problem mehr zwischen uns und ließ sich daher leicht beheben, denn ganz unerwartet waren wir auf einmal zu zwei höflichen, rücksichtsvollen Menschen herangewachsen, ich bat dich, mir zuliebe nicht zu saufen, du batest mich, dir zuliebe nicht rumzuvögeln, wozu ich beim besten Willen ohnehin weder Zeit noch Energie gehabt hätte, wir hielten uns beide an unsere Abmachungen, und so war aus uns doch noch ein anständiges Ehepaar geworden.
Doch Anfang Juli brachen wir zum Glück zusammen. Zufälligerweise waren wir im Flur nicht schnell genug
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