Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
finde, besser nie als so spät, aber sei’s drum. Also denken Sie scharf nach und dann sagen Sie mir, ob Sie jemals ins Tal hinabgesehen haben.«
»Ja natürlich, jeden Abend, oder zumindest jeden Abend im Sommer schaue ich runter ins …«
»Sie schauen nach unten, richtig, aber haben Sie’s jemals gesehen?«
»J-nein, so weit runter kommt der Blick ja nicht.«
»Eben.«
»Und?«
Evelyn fängt an zu wimmern und zu zucken wie ein träumender Hund, und so halten wir beiden anderen einhellig die Schnauze. Trotzdem wird er wieder wach und fragt mit bleicher Stimme:
»Wieso gibt es hier überhaupt keine Sterne, Papa?«
»Naja, der Himmel ist heute etwas bedeckt, nicht weiter schlimm, schlaf jetzt.«
»Wie oft ist alle Jubeljahre, Papa?«
»Ähm … ich glaube, alle fünfundzwanzig Jahre.«
»Unsinn, Doktor, das gilt nur für die vollgefressenen Katholiken, tatsächlich gibt’s höchstens alle fünfzig Jahre eins. Aber für Sie, Weißkittel, würde auch in hundert Jahren nicht das Widderhorn geblasen werden, weil Sie alles falsch gemacht haben, von Anfang an, und deshalb sind wir hier in alle Ewigkeit …«
»Ja, ich lach im nächsten Leben mal drüber, Professor.«
»Noch eins? Sie sind unersättlich, Doktor.«
»Sie werden’s nicht glauben, Professor, aber ich bin müde, tatsächlich müde. Als könnte ich schlafen – schlafen wie du und ich.«
Schwachsinnig lache ich vor mich hin, und da kommt er wirklich, der Schlafengel, und breitet seine weichen, zerzausten Flügel über uns allen dreien aus, auch über mir, ja, er kommt tatsächlich auch zu mir.
50.
Das Licht ist so hell, da ist es gar nicht nötig, auch noch die Augen aufzumachen, es ist doch auf dieser wie auf der anderen Seite der Lider das gleiche. Ich glaube kaum, dass ich die Dinge mit offenen Augen in einem anderen Licht sähe. Komm mach sie auf, Feigling, keine Angst: Blaue Augen sind dem blauen Himmel doch so nah!
Oh ja, tatsächlich, so nah, da passt kein Blatt dazwischen. Die ganze Welt ist himmelblau. Der Horizont ist verschwunden. Der Weg ist verschwunden. Nur blaue Lasur, durchsichtig, feucht schimmernd und doch dicht und blendend wie eine bemalte Glaswand, viele Wände, Schichten um Schichten von blauem Glas.
Ich versuche ruhig zu atmen, richte mich in meinem Lotussitz gerader auf, halte die Hände fest oberhalb des Bauchnabels gefaltet, um die parasympathische Attacke auf den Herzmagen abzuwehren, schließe und öffne die Augen ein paarmal, und langsam taucht die Welt, oder was von ihr übrig ist, wieder auf.
Der Boden unter mir ist noch da, aber zwei, drei Meter vor mir hört er auf, bricht die gestern vor Einbruch der Dunkelheit noch unendlich scheinende Steinwüste einfach ab, und der Weg zum Himmel fängt an. Der Horizont ist also gar nicht verschwunden, wir sind nur auf einmal an ihm angelangt oder eher er bei uns. Hat sich tollwütig zahm zu unseren Füßen gelegt. Und direkt auf ihm, schräg links vor mir, sitzt der Professor. Seine rundliche Rückensilhouette, die weiße Kontur seines Hemdes und seines weißhaarigen Kopfes zeichnen sich scharf vor dem makellosen Himmel ab.
Da sitzt er und lässt seine Beine über den Horizont, nein über den Rand der weißgelben Sandsteinkante hängen, sein schulterlanges Haar teilt sich in der Mitte seines Hinterkopfs und weht an seinen Ohren vorbei nach vorn, der freien Luft entgegen, zusammen mit den Sandschwärmen, die über den Felsstein huschen und über die Kante hoch hinaus fliegen, hinein ins gläserne Blau. Mit sanft eingesunkenem Oberkörper und weich nach vorn gerollten Schulterkugeln hockt er da, die angewinkelten Hände unter die Oberschenkel geschoben, und wenn man blinzelt und seine weiße Kontur sich im nassleuchtenden Blau verwischt, weiß man nicht, ob man ein Bild sommerlicher Ruhe oder vollkommener Verzweiflung sieht, von hinten sehen sie fast gleich aus. Ja, wenn das weiße Hemd nicht schmutzig und zerrissen wäre, könnte man meinen, irgendein Patient ließe am Beckenrand irgendeines Sanatorienpools das Hirn baumeln und schaute dösig lächelnd zu, wie seine kleinen Füße fröhlich im Wasser plantschen.
Vorsichtig hebe ich Evelyns schlafschweren Oberkörper von meinem Schoß, lege ihn sanft auf den Boden und rutsche auf allen vieren auf den Professor zu. Ohne sich umzudrehen, murmelt er:
»Ganz langsam, Doktor. Lassen Sie’s mich Ihnen erst mal erklären, bevor Sie’s mit eigenen Augen sehen. Denn es mag ja sein, dass der Abgrund der Hoffnungslosigkeit
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