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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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sich im Leben nicht zeigen kann, aber ein hoffnungsloser Abgrund, der zeigt sich deutlicher als unserem Solarplexus lieb sein kann. Und wir wollen doch nicht, dass der Schock Sie elende Memme direkt in die Tiefe stürzen lässt. Denn hier schönt kein Nebelschleierchen die Sicht, das Auge rauscht in freiem Fall hinunter, prallt direkt auf den Felswüstenfußboden, und da will der haltlose Lemmingkörper ganz automatisch hinterher.«
    »Wie tief ist es?«
    »Ich könnte Ihnen jetzt sagen, dreitausendfünfhundert, vielleicht sogar viertausend Meter, sagen wir einfach, jenseits Ihrer Vorstellungskraft.«
    »Gibt es … kann man irgendwo runterklettern?«
    »Nein, eine spiegelglatte Wand, sauber geschnitten, nirgendwo auch nur der kleinste Vorsprung. Schön langsam, setzen Sie sich auf den Hintern, beugen Sie den Oberkörper nicht so weit vor – ganz ruhig, ich hab Sie, Doktor! Das haut einen um, was? Zum Glück sage ich Ihnen jetzt nicht auch noch, wie hoch wir hier über dem Meeresspiegel sind. Sehen Sie mich an, sehen Sie nicht mehr nach unten, Doktor!«
    »Aber wo … da unten ist ja … wo ist die Stadt?«
    Er lächelt mitleidig und hält mich noch immer an Schulter und Handgelenk fest. Dann schaut er im Halbkreis um sich, schiebt dabei den Kopf vor und zurück wie zu einem alten Raga-Rhythmus, ja schaut sich mit schwappendem Kopf im Himmel um, denn sonst ist da nichts, keine gegenüberliegende Bergkette, kein einziger Berg, noch nicht mal ein Hügel irgendwo in der Ferne, gar nichts, nur Himmel über der leeren Tiefe.
    »Tja ja, Pagode, Pagode …«
    »Ich kriege keine …«
    »Schauen Sie nicht nach vorn, schauen Sie zurück, drehen Sie sich um, Doktor.«
    »Nein, ich will nicht. Ich muss doch …«
    »In den Abgrund starren? Die Dinge sehen, wie sie sind? Machen Sie sich doch nicht lächerlich, altes Aas! Da – ich fürchte, das Jungchen regt sich. Halten Sie es fest, sonst könnte es weitaus härter aus dem Bett fallen als sonst.«
    Ich rutsche zu Evelyn zurück, der gerade gähnend versucht, sich aufzusetzen. Ich packe ihn und drehe ihn auf seinem Hosenboden wie einen Kreisel zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Er schmatzt blinzelnd vor sich hin, und ich starre apathisch in die sich vor unseren Augen genüsslich ausstreckende Steinwüste, die sich jetzt, in der Rückschau, als riesiges Felsplateau zu erkennen gibt. Aber ganz da hinten steigt es allmählich an, färbt sich gelbgrünlich ein und hebt sich schließlich in die sattgrüne Kuppel hinauf. Mir scheint fast, ich könne sogar die Terrasseneinschnitte der einzelnen Wiesenkreise erkennen und ganz oben auf der Kuppel, wie eine kristallene Kirsche, das gläserne Funkeln der Klinik im Sonnenschein.
    »Ja, werfen Sie noch einen letzten Blick zurück, schauen Sie nur, Doktor, da oben haben wir Hyperboreer gelebt, in azurner Einsamkeit, in Höhen, die kein Vogel je erflog, auf dem Dach der klinischen Welt, um Erlösung vom Ekel zu finden. Und ist es nicht schön, dass dieses Dach zugleich auch schon das ganze Haus, pardon die ganze Welt war?«
    »Aber da unten am Fuß der Felswand muss doch etwas gewesen sein, die Stadt, all die Leute, die versucht haben, zu uns raufzukommen …«
    »Ja, bis vor zwanzig Jahren etwa war da unten mal was und haben Leute versucht, nach oben zu gelangen. Bis man dann angefangen hat, uns von unten her immer höher zu schichten. Von den Aufstiegsversuchen ist danach nur noch deren Gerücht geblieben.«
    »Ich verstehe nicht … aber nein, es muss doch … Sie wissen doch so gut wie ich, dass meine Frau, ich meine, die Ambulante von da unten zu mir hoch …«
    »Ja, das ist wahr, Sie haben sie heraufbeschworen, alte Satanssonde, das muss man Ihnen lassen.«
    »Papa, da hinten kommen Leute!«
    »Keine Angst, das ist nur eine Lichtspiegelung.«
    Aber er hat recht, irgendetwas bewegt sich da an der grünen Linie am Fuß der Wiesenkuppel.
    »Was sollen wir tun, Professor, springen?«
    »Pah, wie fad«, gähnend dreht er sich zu uns um. »Sie wissen doch, dass man den Suizid den Amateuren überlassen soll.«
    »Was dann? Wir können weder vor noch zurück.«
    »Jaja, ich seh’s. Aber ich werde an dieser Veranstaltung leider nicht mehr teilnehmen können. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Doktor, ich muss jetzt sterben.« Er legt sich auf den Rücken zurück, nimmt seine Fensterglasbrille ab, steckt sie ordentlich in seine eingerissene Brusttasche, verschränkt die Arme bequem hinterm Kopf und schließt lächelnd

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