Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
beeinträchtige, ja überhaupt am Denken hindere, kündigt wie gewöhnlich an, nach Frühstück zweite Laufkur zu verweigern. Ansonsten gut und ordentlich, keine nennenswerten tätlichen oder verbalen Angriffe.
Referent ungewöhnlich ermüdet von Vormittag, überlässt Patient nach dem Frühstück Pfleger O.W. und verlässt leicht schwindelnd und unter heftigem Protest des Patienten, der auf seinem Diktat besteht, den Speisesaal.
Wieder einmal einem Saal entkommen, nehme ich auf dem weiten Flur reflexartig den kontrolliert stürmischen Gang und den besorgt entschlossenen Gesichtsausdruck des altehrwürdigen Klinikarztes an, alle Muskeln und Integrationszentren wie ein Mann, als sei meine Arbeit noch immer eine Sache von Leben und Tod, und diese Übung ist eine meiner liebsten, ich kann auch nach all den Jahren nicht genug von ihr bekommen. Seit ich vor knapp zwanzig Jahren als fast noch blutiger Anfänger an einem trübseligen Septembernachmittag hier ankam und direkt in der ersten Nacht, kaum dass ich auch nur mein von der langen Reise überreiztes Ohr auf mein neues Bett legen konnte, ein Bein amputieren musste, das vollkommen zertrümmerte und zermatschte Bein einer jungen Arbeiterin, und nach dieser unwahrscheinlich geglückten Operation im Morgengrauen über die gläsernen Flure rannte in der rauschhaften Hoffnung auf weitere Notfälle, wusste ich, das ist die Rolle meines Lebens. Von den darauf folgenden Umstrukturierungen im Haus und der ihnen geschuldeten Tatsache, dass sich mein Operationsauftrag schon bald mehr oder weniger in diesen schönen schneidigen Standbildläufen auf den Fluren erschöpfen würde, konnte ich ja damals noch nichts ahnen.
Aber Referent schweift ab, und das ist gefährlich, denn sobald er das tut, werden Stimmen aus der Vergangenheit zwar nicht laut, aber deutlich hörbar, bis sich aus ihnen die eine, die unerträgliche herauslöst, über meinen Kopf hinweg von Flurwand zu Flurwand, und dann mal ins linke, mal ins rechte Ohr springt, und mich schließlich am Gängelband hinter sich herzieht, bis ich nicht mehr an mich halten kann, stolpernd in einen unkontrollierten Laufschritt verfalle und dabei leise seufze ich will nachlaufen dieser Stimme, bis ich dich fassen kann .
Aber so weit oder eher so nah kommt es diesmal nicht. Ich bleibe abrupt stehen, halte mir für einen Moment die Ohren zu, was natürlich unsinnig, aber seltsamerweise immer hilfreich ist, auch wenn die Kamera solche Disziplinlosigkeiten nicht gern sieht, atme kurz und so tief es eben mit diesem Ding zwischen den Rippen geht, durch, und dann ist auch dieser kleine Anfall schon wieder überstanden. Referent steuert routiniert nächsten Rechner an, ruft Konto auf, sieht nach, wie er seinen heutigen Gang fortzusetzen hat. Kaum dass mein Dienstplan auf dem Bildschirm erscheint und mich daran erinnert, dass ich als Nächstes die Aquagymnastik zu dirigieren habe, beziehungsweise die Quallenpest , wie der Professor diese altertümliche Ansammlung ausschließlich weiblicher Patienten im Wasser zu nennen pflegt, als aus dem Lautsprecher eine sanfte Ansage für mich durchgegeben wird: Dr. von Stern ins Aufnahmezimmer, bitte, Dr. von Stern bitte ins Aufnahmezimmer!
Referent zeigt keinerlei Anzeichen von Überraschung oder gar Verunsicherung, macht auf dem Fußballen kehrt und begibt sich gemäßigt geschäftig in Richtung Südwesten zum Aufnahmezimmer, während der Professor in meinem Kopf im Takt meiner Schritte immer wieder seine beiden Unsinnsworte ruft: Eine Ambulante! Eine Ambulante! Referent weiß selbstverständlich, dass Patient bloß wirres Zeug redet, ich muss mir keine Sorgen machen, lächerlich, es gibt ja gar keine ambulanten Patienten mehr, so etwas gibt es einfach nicht mehr! Zugleich aber ahne oder eher weiß ich schon jetzt, dass der Professor die Wahrheit sagt, auch wenn sie freilich keinen Sinn ergibt. Im Aufnahmezimmer sitzt eine ambulante Patientin und wartet darauf, ordnungsgemäß von mir aufgenommen zu werden. Noch bin ich zwei Querstraßenflure entfernt, aber ich sehe sie schon vor mir, wie sie den knielangen Rock auf ihren übereinandergeschlagenen Beinen zum dritten Mal glattstreicht, leicht nervös die vielsagend nichtssagenden Dinge auf dem Arztschreibtisch vor ihr und den noch leeren, nachlässig ins Halbprofil gedrehten, aus dem wandgroßen Fenster hinaus, ins Grüne hinein träumenden Referentenstuhl mit der übertrieben hohen Rückenlehne betrachtet.
Ich verlangsame unwillkürlich meine
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