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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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beides zu einem harmonischen Klang, und dieser Klang erinnert mich daran, dass Erleichterung und Enttäuschung schon lange nur noch als siamesische Zwillinge in mir auftauchen, weil die Angst das Einzige ist, was mich noch etwas erwarten und hoffen lässt.
    Körper des Referenten hat eine niedrigstufige Bewegungsmöglichkeit wiedergefunden, und so betrete ich, nun endlich vollends entspannt oder eher ohne jede Spannung im Leib, das Zimmer, um trotz der Leere des Raums anweisungsgemäß meinen Aufnahmedienst hinter dem Schreibtisch abzusitzen, da lässt ein leises Geräusch von scharf rechts meinen Kopf herumfahren. Vier Meter von mir entfernt, vor dem riesigen Fenster, steht, die Hände auf dem Rücken gefaltet, kerzengerade und leicht breitbeinig eine sehr schlanke Frau und schaut hinaus. Sie trägt eine graue, enge Trikothose und ein nachtblaues, kurzärmeliges Hemd. Um ihren Hals ist ein kleines rotes Tuch geknotet, und ich verharre mit meinem Blick leicht schwindelnd auf diesem Tuch, weil der Anblick ihrer hochgebundenen und obszön ungefärbten Haare darüber mir leichte Übelkeit bereitet. Ich räuspere mich, sie dreht sich noch immer nicht um, aber als ich zu meiner Grußformel ansetze, kommt sie mir zuvor:
    »Eine wirklich tolle Aussicht haben Sie hier.«
    Über ihre linke Schulter dreht sie mir langsam das Gesicht zu, nur das Gesicht, ihr Körper bleibt unbeweglich zum Fenster hin ausgerichtet, und unwillkürlich denkt es in mir: Rotation, Mobilisation, Stabilisation . Ihre Augen erreichen meine, sie lächelt, und meine Übelkeit gewinnt an Klarheit. Wieder einmal fällt mir auf, was für ein wahrhaft kühnes Unterfangen die Verpflanzung unseres Herzens ins Sonnengeflecht war – schon ein nur leicht gesteigerter Sympathikotonus bewirkt ungleich schwerere Erschütterungen dieses in den Solarplexus tiefergelegten Herzens, ganz zu schweigen von gravierenderen Willkürakten des immer ein wenig dümmlichen vegetativen Nervensystems, denen das seiner angestammten Direktverbindung nach ganz oben ins Hinterhauptquartier beraubte und ins Eingemachte degradierte Zentralorgan deutlich schutzloser ausgeliefert ist. Aber mag das dünkelhafte, in die Peripherie verbannte Herz auch manchmal selbstmitleidig klagen Nach Moskau, Nach Moskau! , so weiß es sich doch damit zu trösten, dass die Peripherie die neue Mitte ist, ja dass das Zentrum eigentlich schon immer in der Peripherie lag. Und immerhin, so sagt sich das Herz, hat das mediative Denkorgan, das zwischen den Lungenflügeln an meiner alten Herzensstelle Platz genommen hat, alles in allem die Kommunikation zwischen mir und dem Hirn wirklich deutlich verbessert. Seit wir zu dritt sind, geht alles viel besser, ja gar kein Vergleich! Seltsamerweise kann erst das nicht mehr freigestellte, sondern nun vollends in alle Arbeitsabläufe eingeweihte oder eher eingeweidete Herz in aller Ruhe die alte Losung seufzen: Nachgiebige Mitte in mir, Kern voll Schwäche, der nicht sein Fruchtfleisch anhält , und sich dabei sanftmütig aus der Ferne oder eher der eigenen Entfernung belächeln. Es kann ganz hemmungslos seinem nostalgischen Hang zu solch verblasenen Bildern vom Körper frönen, ohne ihnen, wie früher noch, auf den Leim gehen zu müssen, weil der Mediator da oben zwischen den Rippen zuverlässig die Stellung hält und alle Reibungseffekte in ruhige Kraft verwandelt – Rotation, Mobilisation, Stabilisation . So kann Referent nun freundlich lächelnd und mit verbindlich ausgestreckter Rechter sagen:
    »Guten Tag, ich bin Dr. Franz von Stern, der diensthabende Arzt. Wollen wir uns nicht setzen?«
    »Ja gern, danke.«
    Sie gibt mir nicht die Hand, als sie auf mich zukommt, und so verwandelt sich meine Rechte in die eines Oberkellners, der in einem scheinfeinen Restaurant die Tische zuweist, während die Frau sich, noch immer unverbindlich lächelnd, mir gegenüber setzt. Natürlich schlägt sie die Beine nicht übereinander, sondern streckt sie unverschämt lang unter meinen Tisch aus, sodass ich, um ihr auszuweichen, meine Knöchel unter dem Stuhl verschränken muss. Nichts an diesem Lächeln, nichts an ihrer Körpersprache, nichts in ihrer Stimme deutet darauf hin, dass sie mich erkennt, nicht das kleinste Flackern in diesen grünen Augen, und einen Moment bin ich unsicher, ob meine Erinnerungsbank mir einen Streich spielt und sie ist es doch gar nicht. Aber nein, natürlich ist sie es, gar kein Zweifel, ausgeschlossen! Nur weil zwanzig Jahre vergehen, heißt das ja

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