Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
nicht, dass man jemanden nicht mehr …, sie müsste, lass mich nachdenken, fünf Jahre jünger als ich, also jetzt zweiundvierzig sein, ja genau, im Gegensatz zu mir hat sie sich kaum verändert, nur älter geworden und auch das nicht annähernd so sehr, wie es sich für zwanzig Jahre gehört. Nein, sie sieht ganz anders aus, würde sie nie wiedererkennen, wenn ich nicht … Sie ist es nicht, natürlich nicht! Wie sollte sie es auch sein, es ist ja nicht möglich, es sind nur dieselben Farben, nur die Farben von Augen, Haaren und Haut. Überdecken auf den ersten Blick die Physiognomie auf ganz erstaunliche Weise, weil es so etwas wie Physiognomie freilich gar nicht gibt, da hat der Professor schon recht. Ja, aber der Ausdruck lässt sich nicht von der Farbe überdecken, weder herstellen noch überdecken. Sie ist es doch! Und sie kommt hierher und tut so, als würde sie mich nicht kennen. Hält es anscheinend noch nicht einmal für nötig, sich mir soweit erkenntlich, also mir unkenntlich zu zeigen, dass ich wenigstens … nicht einmal ihre Haarfarbe hat sie verändert, diese undefinierbare Farbe, die ich niemals mehr, zum Glück niemals mehr sehen musste. Gibt sich nicht zu erkennen, indem sie alles zu erkennen gibt! Ganz und gar uncharakteristisch für sie, diese Perfidie, aber dann, was weiß ich schon? Nach all den … Referent ruft sich zur Räson, irgendeine undichte Stelle im meta- oder im paralimbischen System, oder der Mediator übersetzt plötzlich falsch, neutralisiert nicht ausreichend, was freilich noch beunruhigender wäre, in jedem Fall muss Referent die Fehlerquelle noch heute ausfindig machen lassen. Aber jetzt erst einmal ruhig fortfahren, es müssen mindestens zwölf Sekunden vergangen sein seit ihrer Antwort, und selbstverständlich wird das Band unangemessen langes Schweigen des Referenten protokollieren. Sie ist es nicht, du siehst Gespenster!
»Ja, was kann ich für Sie tun, ich meine, wie kann ich Ihnen helfen, Frau äh …?«
»Oh, ich habe keine Ahnung. Man hat mir nur gesagt, ich soll in der Aufnahme vorstellig werden und dort mit dem zuständigen Arzt sprechen, und …«, sie macht eine kleine Pause und lächelt noch strahlender, »das sind anscheinend Sie. Ich soll also mit Ihnen sprechen, wie’s aussieht.«
»Ja, so scheint’s, selbstverständlich. Gut, dann wollen wir mal … haben Sie Ihre Einweisungspapiere bei sich?«
»Nein, man sagte mir, in meinem Fall … die würden Ihnen direkt …«
»Ah ja, tatsächlich? Hm, na schön, dann will ich mal nachsehen …«
Kaum dass ich den Rechner antippe, huscht eine Schwester lautlos herein, legt mir devot ein paar Papiere unter die Nase, nickt der Patientin freundlich zu und verschwindet ebenso lautlos wieder.
»Hmhm, soso«, Referent blättert leicht schwindelnd Papiere durch. »Sie sind also ambulant hier, Frau äh?«
»Ja genau. Komisch, was?«
»Wie meinen Sie?«
Referent muss endlich den Kopf wieder aus den Papieren heben und Patientin streng ansehen, aber sie zuckt nur die Achseln und zieht amüsiert die Augenbrauen hoch:
»Naja, ich mein ja nur, ambulante Kranke, wo gibt’s denn heute so was noch?«
»Das ist ungewöhnlich, das ist wohl wahr, aber so steht’s hier ganz eindeutig, ähm, ich kann hier Ihren Nachnamen gar nicht finden, Frau äh …«
»Ja, das ist kein Wunder. Den gibt’s nicht, ich meine, ich habe keinen.«
»Sie haben keinen Nachnamen?«
»Nein, Nachnamen sind was für Schwächlinge, finden Sie nicht?«
»Na schön, gut, belassen wir’s einstweilen dabei«, Referent hat endlich wieder alles unter Kontrolle, faltet gütig die Hände auf den Papieren und lächelt herablassend wohlwollend. »Ich bekomme auch so langsam ein Bild von Ihnen.«
»Ah ja, meinen Sie?«
Sie lächelt ebenso liebenswürdig arrogant zurück. Sie ist es! Niemand sonst könnte so arrogant sein. Außer mir, versteht sich, und damit ist das Problem schon wieder behoben.
»Mhm, meine ich. Also …«, ich blicke gelangweilt abwechselnd auf die Papiere und auf die Patientin, damit sie sich langsam ebenso entkörpert wie das Papier vor mir, »wenn ich die vorläufige Diagnose des Kollegen unten in der Stadt richtig verstehe, haben Sie ja ein durch und durch sympathisches Nervensystem.«
»Ja, so was sagte er. Ist das etwas Ernsthaftes?«
»Sie meinen etwas Ernstes?«
»Oder das, meinetwegen.«
»Nicht unbedingt, nein, prinzipiell kann man damit vollkommen beschwerdefrei uralt werden, falls der Körper ausreichende
Weitere Kostenlose Bücher