Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
es, mein Reinigungsritual heute ausfallen zu lassen, stattdessen der Sonne zu folgen und in scheinbar müßigster Ruhe an den dümmlich auf- und abschauenden Hunden auf der Rotunde und einer ganzen Perlenkette weiterer sanitärer Wegelagerer vorbei den Zarenpfad bis zu seinem Ende nach Gaspra zu flanieren, um schließlich am Kap des Heiligen Todor schwitzend und keuchend die steinigen Strände abzusuchen, in der würdelosen Hoffnung, dich vielleicht in einer der Buchten unterhalb des Schwalbennests zu finden.
Drei Stunden nach meinem zu viel versprechenden Aufbruch gab ich auf, wischte mir die nutzlose Stirn, an der noch nicht einmal das eigene Blut klebte, sondern nur das meiner linken Hand, die ich mir beim letzten Abstieg durch einen kleinen Ausrutscher aufgeschürft hatte, und ließ mich in die Knie sacken an einer der seltsam kurkumagelben Strandzungen, an denen die Ausflugsboote die sonntäglichen Patientenladungen mit ihren Heilstudenten absetzten, die von hier aus den Aufstieg den Auroraberg hinauf zum zinnenbewehrten Schwalbennest nahmen, in dem das überteuerte italienische Restaurant in diesem Frühling einem ebensolchen ayurvedischen Platz gemacht hatte.
Längst hätte ich auf meiner Station zurück sein müssen, um irgendjemandem eine Schlamm- und Redepackung abzunehmen, hätte also wenigstens anrufen müssen, tat es aber aus leicht erfindlichen Gründen nicht. Ich wollte, musste Esther noch heute sehen und wollte, durfte um keinen Preis daran gehindert werden. Man hätte mir, hätte ich angerufen, zwar jede noch so dämliche Lügengeschichte freundlichst abgenommen und meine Verspätung verständnisvoll entschuldigt, mich aber selbstverständlich unverzüglich zurückbeordert, also rief ich gar nicht erst an. Aber Esther hätte ich anrufen können, als ihr Mentor hatte ich schließlich ihre Nummer, tat es aber nicht, denn als ihr Mentor konnte ich sie heute unmöglich sehen wollen, ich konnte sie zufällig sehen oder gar nicht. Nie im Leben hätte ich dir sagen dürfen, dass ich dich sehen will.
Ich konnte also niemanden anrufen und, da ich keine Ahnung hatte, wo ich dich hätte finden sollen, auch nirgendwo hingehen, da war nichts zu machen, einfach nichts zu machen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Und so habe ich mich in den Sand gesetzt. Ich ließ mir von der Sonne die Augen schließen und riss den Mund zu einem Löwengähnen auf. Nach ein paar Minuten wurde mir das süße Nichts zu bunt, ich hob die sauber gestreckten Beine und das Becken in einen vorbildlichen Rückstütz, die Armbeugen lächeln nach vorn , legte den Kopf weit in den Nacken und lauschte blind dem heiteren Geplätscher der an mir vorbeiziehenden Ausflügler, aus dem sich angenehmerweise keine einzige Einzelstimme heraushob. Gewissenhaft verharrte ich in meinem Herzöffner und beatmete die gesamte Körpervorderseite, bis ein nachzüglerischer und offenkundig etwas unsauber eingestellter Patient unappetitlich laut seufzend vom Bootssteg in den Sand sprang:
»Aaahh, Gott ist das schön! Ach Gott, ach Gott!«
Durch meine verächtlich geschlitzten Augen sah ich einen großen, sehr dünnen Mann mittleren Alters mit schulterlangen, mittelgescheitelten kastanienbraunen Haaren in einem engen, an Armen und Beinen zu kurzen und an den einschlägigen Stellen stark ausgebeulten weißen Baumwoll-Overall. Nach seiner glücklichen Landung absolvierte er hektisch ein paar Sonnengrüße, und jedes Mal, wenn er sich in Shaturanga absenkte, küsste er seufzend den Sandboden. Endlich wieder im Stand angekommen, blieb er ein paar Atemzüge lang ruhig in Tadasana stehen, riss dann aber die Arme noch einmal ekstatisch nach oben und jubelte:
»Schön bist du, Tauriens Gestade,
wenn vor dem Schiff im Morgenstrahl
du aufsteigst aus dem Meerespfade,
wie ich dich sah zum erstenmal.«
Ich zog die Mundwinkel abschätzig nach unten, tippte auf eine Überdosis Zerebron, Algen-Abusus und ausschweifend unterdrückte Onanie, die in fataler Handreichung eine leichte Anaklasis in eine schwere Amusie verwandelt hatten, und zugleich dachte ich, wie schön doch diese auf einem hölzernen Kahn übersetzten Verse zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Ja, am falschen Ort, am falschen … – aber ja, das ist es, natürlich! Denn ja, schön bist du, Tauriens Gestade oder eher, herrlich seid ihr, Taurisufer , wenn man euch vom Schiff aus sieht , aber doch nicht hier! Wie konnte ich nur so dumm sein, westwärts zu gehen, wo ich mich doch selbstverständlich nach
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