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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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während ich dieses erste Mentorgespräch mit den üblichen Floskeln – wenn irgendetwas sein sollte, ihr könnt mich jederzeit – beendete, alles Weitere auf unser nächstes Treffen in einer Woche zur selben Zeit am selben Ort verschob, aber ohne dass ich es gemerkt habe, hatte mir ihre demütig dreifache Entschuldigung logischerweise den entscheidenden Schlag versetzt. Viel später erst ist mir klargeworden, dass es wohl kein Zufall war, dass ich mich am Abend dieses Tages zum ersten Mal an die in der Studienordnung empfohlene Leitlinie über die korrekte Abfassung eines SB hielt und also meinen monatlichen Stimmungsbericht von meinem Referenten schreiben ließ.
    In den darauffolgenden Wochen fiel mir meine Mentorpflicht von Sitzung zu Sitzung mehr auf die Nerven, weil das irre Mädchen nach seiner Entschuldigung seinen Irrsinn gänzlich verloren zu haben schien, mich nicht mehr angriff, sondern unauffällig und brav, aber sichtlich ohne jedes Interesse, gleichgültig wie ein geschlagenes Kind, seine Aufgaben anstandslos erfüllte, meine unsinnigen Ausführungen lahm mitschrieb und seinem ersten Patienten, einem mit halboffenem Mund wohlig vor sich hin stöhnenden alten Mann, das warme Öl äußerst geschickt und ebenso ungerührt über die Stirn rinnen ließ. Nach drei Wochen war ich so weit, ihrem nun nicht mehr spöttischen, sondern in seiner ernsten und müden Unverstelltheit vollkommen undeutbaren Blick ausweichen zu müssen, und eine weitere Woche später, am fünfzehnten Juni, nahm Referent mir zum zweiten Mal den lästigen Bericht ab, schrieb leichthändig, wie von selbst, sodass ich mir, während Referent gewissenhaft den Formbogen füllte, von ihm und damit auch ein wenig von mir selbst unbemerkt, die Freiheit nahm, deinen Namen in meinem Kopf kreisen zu lassen wie einen Pawlow’schen Hund, Esther .

24.
    Kurz zuvor hatte die Badesaison begonnen, und entlang der gesamten Küste des Klinikverwaltungsabschnitts Groß-Jalta füllten sich die Strände mit unseren Leuten. Während die meisten meiner Kommilitonen es sich zur sommerlichen Gewohnheit gemacht hatten, unser gesamtes Studienterritorium unsicher zu machen und, wann immer sie ein paar Stunden frei hatten, in kleinen, sexuellen Ertüchtigungen zuträglichen Gruppen die Küstenstraße von Gursuf im Nordosten bis zu den letzten Weinbergen in Foros im Südwesten im offenen Cabrio rauf und runter zu rasen und niemals zweimal hintereinander am selben Ort zu baden, hielt ich meinen Bewegungsradius aus hygienischen Gründen möglichst klein, machte meine Wege fast ausschließlich zu Fuß und badete jeden Vormittag an dem immergleichen kleinen schmalen Strand unweit meiner Station.
    Sobald ich meine Morgenpatienten erledigt hatte, sprang ich direkt aus dem hohen Bogenfenster meines Zimmers im Erdgeschoss des Liwadija-Sanatorium-Palasts, der in der Morgensonne noch weißer schimmerte, lief über den zypressengesäumten Kiesweg hinüber auf den noch schattigen Zarenpfad, spazierte tief atmend und die Arme bis hoch über den Kopf kreisend Richtung Westen, verließ jedoch den gutmütig steigungslosen Parkweg schon nach einer Viertelstunde wieder, in gebührendem Abstand zur Aussichtsrotunde oberhalb von Oreanda, die stets von Patientenschwärmen belagert wurde, die hier von Sonnenaufgang bis in ihren Untergang ihre Asanas praktizierten, und kletterte über eine sandig schlüpfrige Stiege die Klippen hinab zu meinem um diese Zeit noch leeren Strand. In wütend schnellen Zügen schwamm ich so lange auf das noch kalte Meer hinaus, bis ich meine kräftigen Arme und Beine für hinreichend erschöpft hielt, um in meinem bevorzugten Zustand, einer perfekt zwischen Erregung und Lähmung austarierten Angst, in der Panik und Stoa eins werden, zurückzukraulen zu können, streckte mich dann nackt, mit schmerzender Lunge, rasendem Herzen und köstlich prickelnder Haut auf einem der glatten Felsen aus und hoffte vor Kälte zitternd darauf, dass die im Lauf des Sommers mächtiger werdende Sonne den Dreck in meinem Hinterkopf austrocknen und mich tatsächlich in eine Eidechse verwandeln würde.
    Aber an diesem zwanzigsten Juni, einem strahlend klaren Sonntag, hatten mich meine Pflichten länger aufgehalten, an einer blauen Asthmatikerin hatte ich meinen ersten Luftröhrenschnitt absolvieren müssen, und so war es schon fast Mittag, als ich auf den Zarenpfad einbog, und ich wusste, mein Strand würde nicht mehr leer sein. Diese günstig ungünstigen Bedingungen rechtfertigten

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