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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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legitimiert werden konnte. Damit war der Fall erledigt. Streng genommen weiß ich also gar nichts über Ihre Mutter, denn selbst der nächtliche Schattenriss ist möglicherweise nur ein Trugbild, die Frau kann irgendjemand gewesen sein, vielleicht eine Auftragslieferantin, ja wir wissen nicht einmal, ob die verhüllte Gestalt überhaupt eine Frau war oder ein kleiner, sehr zierlicher Mann oder ein Junge, wer weiß.«
    »Ich möchte wissen, wie sie war. Wie sie zum Beispiel war, als sie so alt war wie ich, neunzehn, eine Frau von neunzehn Jahren …«
    »Naja, noch gar keine Frau war sie da, sondern eben ein neunzehnjähriges Mädchen, niemand, der schon der Rede wert wäre.«
    Evelyn wackelt unzufrieden mit dem Kopf in seiner Hand hin und her, und langsam verschließe ich wieder die Augen vor ihm. Von weit her, von einem weit ferneren Ort her als dem Stimmensaal höre ich das Echo meiner letzten Worte, immer wieder werden sie zu mir zurückgeschickt, bis sie einander in der rauschhaften Brandung der Echolalie überlagern und ich plötzlich klar und deutlich deine Stimme aus ihnen heraushöre, die einzige, die mir aus meinem Innern zurückkommt, die einzige, die man mich vernehmen lässt und von der ich idiotischerweise glaube, sie sei für Dankevicz und alle anderen unhörbar. Ich höre dich, ein spöttisches neunzehnjähriges Mädchen, zu mir sagen: ein neunzehnjähriges Mädchen, niemand, der schon der Rede wert wäre .

23.
    »… ein neunzehnjähriges Mädchen, niemand, der schon der Rede wert wäre.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Aber gemeint.«
    Sie spricht in widerlich freundlichem Ton, ohne jede Wut und lächelt noch immer spöttisch, auch wenn du später behauptet hast, du hättest, als wir im Schneidersitz einander gegenüber auf der Wiese vor dem pseudoschweizerischen und lächerlich treuherzig restaurierten Chalet saßen, das seit diesem Frühling den Mentor-Monitoring-Club des Setschenow-Instituts im Massandra-Park in Jalta beherbergte, nicht nur nicht spöttisch, sondern überhaupt nicht gelächelt und nur gegen die zum ersten Mal in diesem Jahr so heiße Mittagssonne anblinzelnd leicht die Mundwinkel verzogen.
    Die Maienluft hatte mich an diesem Tag vor genau dreiundzwanzig Jahren anders im Griff als heute, aber sie war damals auch noch nicht das leicht durchschaubare Erinnerungslüftchen einer sauber zweistelligen Gras- und Fliederrelation, das vorrangig im Hippocampus oder in effigie weht, sondern das schwer schwüle Geschütz einer Luft, in der die Mandel- und Granatapfelbaumblüte gerade ihren Höhepunkt erreicht hat und in der sich der Pinienharz- und Kräuterduft, der aus dem Jailagebirge herabsteigt, mit dem dunkel scheuen der Glyzinie am Haus vor unseren Augen vermischt, eine Luft, die noch einmal als fettfeuchter Vorhang vor die ganze Südküste und alle Sinne gezogen wird, um mit größtmöglichem Effekt die lungen- und herzreinigende Trockenheit des Sommers anzukündigen.
    Ob du nun spöttisch gelächelt hast oder nicht, als ich dich viel zu lange schweigend und verärgert schnaufend ansah und dabei dachte, dass das leicht gelbliche oder eher bernsteindurchsetzte Grün deiner Augen sich mit dem freundlich satten Wiesengrün sticht, in jedem Fall häuften sich die Gerüche und Farben dieses Mittags in einer manischen Akkumulation, die gegen jeden guten Geschmack verstieß und daher in mir augenblicklich den jedem guten Geschmack überlegenen Zwang auslöste, im apollinischen Rausch eines krankhaften Gespürs für Nuancen alles auf einmal als einzelnes zu erfahren, und so hätte ich als angeberischer Sensualist, der ich damals unbedingt glaubte sein zu müssen und vor allem sein zu können, am liebsten meinen Kopf auf dein blasses, rührend schmales und sicher unbequemes Knie gelegt und hingebungsvoll gejammert: Weh mir! Ich bin eine Nuance!
    Stattdessen schnaufte ich nur ein zweites Mal enerviert zu dir hinüber, denn die Situation fing an, entschieden peinlich zu werden. Die beiden anderen Studienanfänger links und rechts neben dir, zwei erbärmlich harmlos wirkende Jungs in überteuerten Trainingsanzügen, die bis jetzt nur mit einem viertel Ohr zugehört und gelangweilt in der Sonne gedöst hatten, richteten durch den Angriff ihrer Kommilitonin auf mich, ihren frischgebackenen Mentor, alarmiert ihre Rücken auf und schienen nun abzuwägen, ob es im Falle einer Meuterei nicht eher an ihnen als an dem Mädchen wäre, die Führung zu übernehmen. Glücklicherweise blieb die

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