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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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Osten hätte wenden müssen, rauf nach Gursuf, natürlich! Ich sprang auf, dankte im Geiste dem Baumwollmann und schickte mich schon an, die Aurorastiege zu erklimmen, als er mich anrief:
    »Halt, junger Mann, warten Sie einen Moment!«
    »Äh … meinen Sie mich?«
    »Sehen Sie hier noch jemanden, den ich meinen könnte?«
    »Ähm …«, andeutungsweise drehte ich den Kopf hin und her und stellte mit leichtem Unbehagen fest, dass ich mit ihm allein am Strand war. »N-nein, wohl nicht.«
    Er schien meine Gedanken zu erraten und lachte gutmütig, was in seltsamem Kontrast zu seinem ausgezehrten Gesicht mit der ledrig gebräunten, überspannten Haut stand:
    »Keine Sorge, mein Junge, ich sah Sie nur gerade da hochhüpfen, und da dachte ich … Sehen Sie, ich brauche einen zweiten Heilstudenten, mir stehen zwei zu, und Sie scheinen mir recht kräftig, und doch geschmeidig, schön durchgearbeitet und so weiter, und deshalb dachte ich, Sie könnten mir bei meiner morgendlichen Arbeit an Pratyahara assistieren und …«
    »Oh, ich verstehe, aber es tut mir leid, ich bin schon anderweitig zugeteilt.«
    »Wie schade, wie überaus schade«, er berührte noch immer gutmütig lächelnd mit den Daumen seiner zu Namaste gefalteten Hände abwechselnd Stirn, Mund und Brustbein für reine Gedanken, wahre Worte und gütige Gefühle. »Tja, kann man nichts machen, aber vielleicht könnte ich bei der Verwaltung anrufen und um Ihre partielle Versetzung bitten, es handelt sich ja nur um ein Stündchen am Morgen, und …«
    »Es tut mir wirklich leid, aber gerade am Morgen bin ich den Patienten auf meiner Station unabkömmlich.«
    »Ich verstehe, das ist natürlich dumm, aber ich brauche wirklich jemanden, der mir bei Pratyahara assistiert, vielleicht könnte ich doch bei der Verwaltung anrufen. Wissen Sie, ich kenne Dr. Frauenfeld recht gut.«
    Ich schwieg betroffen, sah eine Weile wie betäubt zu, wie er sich in den Baum, Vrksasana , verwandelte und dabei konzentriert durch mich hindurch sah. Erst als er das Bein wechselte, sagte ich unsicher:
    »Also ich kann nicht sehen, dass Sie Assistenz in Pratyahara bräuchten, Sie sehen so aus, als hätten Sie Ihre Sinne vollkommen unter Kontrolle, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
    »Mein lieber Junge!« Er ließ lachend Arme und Beine locker und schüttelte scheinbar gerührt den Kopf. »Sie haben ja keine Ahnung! Ich … ich«, er schlug sich mit der flachen Hand gegen die magere Brust, »ich habe gar nichts unter Kontrolle, gar nichts! Ich bin erst ganz am Anfang, noch immer, glauben Sie mir, aber Sie könnten mir helfen, Sie könnten mein Meister sein, Schüler und Meister in einem, Meisterschüler und –«
    »Verzeihen Sie, ich muss jetzt gehen. Und nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich möchte Sie dringend bitten«, endlich hatte die Wut meine Stimme wieder zu ihrer üblichen Fülle verdichtet, »von einem Gesuch um meine Versetzung Abstand zu nehmen. Ich fühle mich meinen Patienten wirklich aufrichtig verpflichtet und möchte ungern …«
    »Natürlich, natürlich! Abstand, Abstand, Abstand … na, mal sehen. Nun laufen Sie schon, wo immer es Sie so dringend hin verlangt.«
    Er setzte zum nächsten Sonnengruß an und wortlos drehte ich mich um, stieg in ruhigem, aber schnellem Gleichmaß die steile Vierzigmetertreppe hoch, rannte oben angelangt zur Bushaltestelle, um den Fünfzehnuhrdreißiger noch zu erreichen, und erst als ich schweißüberströmt im Bus nach Jalta saß und dachte, dass ich Esther nun doch noch sehen würde, gelang es mir, leise in mich hineinlachend das weiße Baumwollgespenst abzuschütteln.
    In Jalta am Busbahnhof fuhr mir der Anschlussbus nach Gursuf gerade vor der Nase weg und die bereitstehenden Taxis wurden schon vom Patientenrudel beschlagnahmt. In das letzte noch freie ließ sich gerade ein alter Mann mitsamt Krücken und Ehefrau verladen, und für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, es ihm unter Vorweisung meines Heilpasses, lassen Sie mich durch, ich bin ein dringender Fall , wegzunehmen, rannte dann aber die Uliza Moskowskaja Richtung Hafen runter, vorbei am Gemüsebasar, vorbei am Kleidermarkt, die breite lärmende Straße mal vorwärts laufend, mal rückwärts stolpernd, mit offener Hand über dem erhobenen Arm, an der ein Dutzend freier Taxis vorbeirauschte, als habe dies lässig gebieterische Zeichen über Nacht seine Bedeutung verloren. Erst ganz unten, schon hinter dem Leninplatz erbarmte sich ein Fahrer, der gerade vor der Post

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