Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
am Fuß des Aju Dag gehen, geschweige denn jemals auf das Bärenhinterteil des Bergs hinaufwandern, nicht dort oben träumend durch den lichten Eichenwald streifen, dessen im Juni noch helldunkel geflecktes Grün wegen der kleinen Erdbeerbäume, die wie spöttische Kobolde zwischen den Eichen herumstehen, aus der Ferne schimmert wie mit rötlichem Moosschaum überzogen. Nein, sie würde nie da hochgehen und mit mir ein paar von den seltsam seifig schmeckenden wilden Pistazien sammeln, sie würde nie freiwillig irgendwo hingehen, wo es schön sein könnte. Schönheit, so ihre jugendlich prahlerische Maxime, sei nur was für schwer Kranke oder schwer Gesunde. Für alle anderen gelte es, sich nicht vom hässlichen Fleck zu rühren, weil einem sonst an jeder Ecke das Grauen abgrundloser Hübschheit auflauere.
Erst später habe ich aus ihr herausbekommen, dass ihr verdrehter Ästhetizismus lediglich sekundärer Krankheitsgewinn einer nervösen Pinkelsucht und des hysterischen Bedürfnisses war, sich nie weiter als einen Sabbatgang von einer sauberen Toilette zu entfernen. Und dieses Reinheitsgebot, das man nur schwer mit einer solch schlampigen Person wie Esther in Verbindung bringen konnte, ließ sich schließlich nur an den kultiviert hässlichen Lagerstätten der Patientenmassen einhalten. Noch später, erst als wir schon verheiratet waren, kam mir schließlich der Verdacht, dass diese Pinkelsucht, mit deren Hilfe sich die Zeit in ordentliche Halbstunden takten ließ, vielleicht nur ein geschicktes, in seiner Penetranz vollkommen unauffälliges Ausweichmanöver war, um nie allzu lang ununterbrochen mit mir oder den Stimmen oder eher wohl mit mir und den Stimmen allein sein zu müssen, eine äußerst diskrete Technik – schon nach ein paar Wochen merkte ich kaum noch, dass sie andauernd kurz verschwand –, um alles, ausnahmslos alles zu unterbrechen und ewig aufzuschieben, sodass nie irgendetwas wie ewig erscheinen und also jetzt sein musste. Und schon damals ahnte ich, dass meine analytischen Verrenkungen im Grunde nur Ausweichmanöver waren, um mir nicht die mehr als unangenehmen Fragen zu stellen, warum Esther mich nie lang aushielt, sosehr sie sich auch mühte, wovor sie sich unterschwellig ängstigte, wenn wir allein waren, und mit wem ich da eigentlich nachts vor dem Spiegel sprach.
Aber von all dem wusste ich an diesem zwanzigsten Juni noch nichts, ich sah nur, dass sie tatsächlich trotzig verloren an diesem erstbesten hässlichen Strand zwischen den Billigpatienten saß, und war glücklich, sie endlich gefunden zu haben.
26.
»Hallo, Esther!«
»Oh – hallo«, mein Auftauchen ist augenscheinlich eine unerfreuliche Überraschung, das höfliche Lächeln, das sie eilig aufsetzt, will nicht recht halten und rutscht immer wieder herunter, während sie, ihre Augen mit der Hand vor der Sonne abschirmend, zu mir hochschaut. Nichtsdestotrotz schlägt mir von da unten keine persönliche Antipathie oder gar Feindseligkeit entgegen, zumindest will es mir nicht so scheinen, sondern eher etwas wie der Unwille oder jedenfalls das physisch deutliche Unbehagen, im Alleinsein gestört zu werden, vielleicht aber auch die Scham, auf frischer Untat des Alleinseins zwischen all den schauerlich weißen Kliniksonnenschirmen erwischt zu werden und dabei zu allem Überfluss überflüssigerweise fast nackt zu sein. Alles in allem also kann ich in ihrem Benehmen nichts lesen, was ich notwendig gegen mich verwenden müsste.
»Darf ich?«
Und sitze neben ihr, bevor sie auch nur antworten kann:
»Äh … ja … klar.«
Und ziehe mich bis auf die Badehose aus, obwohl mir nicht ganz wohl dabei ist, weil ich statt der gewohnten Bewunderung nur eine verstohlen zur Seite schielende Befremdung ernte.
»Was machst du da?«
»Wie, was ich da mache?« Ich muss lachen über ihre zerknautschte Stirn und über meine Verunsicherung hinweg. »Ich ziehe mich aus, selbstverständlich.«
»Ja, sehr selbstverständlich.«
»Ja selbstverständlich. Wir gehen jetzt schwimmen. Komm schon!«
Ich springe auf, aber sie rührt sich nicht vom Fleck, sondern klemmt sich die Knie unters Kinn.
»Glaubst du nicht, du könntest Ärger kriegen, wenn du mit einer dir unterstellten Studentin schwimmen gehst?«
»Ach Gott, nein«, stöhnend lasse ich mich wieder neben sie fallen.
»Daraus lässt sich beim besten Willen keine Unterstellung machen, ich bin doch bloß dein Mentor und kein Professor oder Führungsarzt, wir sind schließlich
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