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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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Durchschnittstiefe von tausendzweihunderteinundsiebzig Metern gehöre ich zwar zu den tiefsten Binnenpersonen der klinischen Welt, aber es gibt kaum Leben in mir, denn zwischen den Schichten, aus denen ich bestehe, findet so gut wie kein Austausch statt. In Tiefen ab zweihundert Metern werde ich extrem schwefelhaltig und in noch größerer Tiefe bin ich weitgehend sauerstofffrei, sodass sich jede Menge dunkle bis schwarze Faulschlämme in mir angereichert haben. Da unten überleben nur noch Mikroben, vor allem Bakterien.«
    »Ich bin eine Mikrobe«, ich packte sie im Genick, zog sie zu mir herab und küsste sie. »Ich bin der Einzeller schlechthin, einzelliger geht’s nicht.«
    »Mhm, ja, ich wette, dich kann man noch nicht mal unterm Mikroskop sehen, und ganz sicher hast du keinen Zellkern, ja, du bist ein haltloser Prokaryont.«
    »Nein, ich bin ein anständiger Protist – ein Protist meinetwegen, aber mit Kern, bitteschön, ein Pantoffeltierchen. Und du kannst es sogar mit bloßem Auge sehen. In aller Unschuld liege ich in meiner Infusion rum und drehe den ganzen Tag Kernchen.«
    »Ja, du bist zwar tatsächlich ein hübsch bewimperter Infusor. In jedem Fall aber bist du ein Krankheitserreger.«
    »Ich könnte doch auch ein Symbiont sein, oder nicht?«
    »Nein, könntest du nicht.«
    »Warum nicht, wie kannst du das wissen?«
    »Du bist ein Protist, wie du selbst sagst, meinetwegen ein höherer Protist, ein paar mehr Zellen, die doch nur immer die eine sind, in jedem Fall aber ein Agamist, ein autogenerativer Junggeselle, unsterblich scheint’s, und doch nicht ganz, denn deine ungeschlechtliche Fortpflanzung fällt jedes Mal mit deinem Tod zusammen. Auch wenn der Tod durch diese Fortpflanzung gewissermaßen verschleiert wird, indem du deine ganze Substanz bei jeder vereinigenden Teilung immer wieder in dich selbst überführst.«
    »Hör auf, ich finde das nicht besonders lustig.«
    »Nicht? Tja, vielleicht hast du recht, es ist wohl eher traurig, denn am Ende, nach all den herrlichen Verdopplungen stirbst du doch auch, wir kennen die alte Geschichte: Der hübsch bewimperte Infusor stirbt, sich selbst überlassen, eines natürlichen Todes an der Unvollkommenheit der Beseitigung seiner eigenen Stoffwechselprodukte, aber vielleicht sterben auch alle höheren Tiere im Grunde an dem gleichen Unvermögen.«
    »Hör auf!«
    Ich war laut geworden und sprang wütend auf, wollte weg und auch nicht, lief, die Hände in die Hüften gestützt, um besser atmen zu können und meine Unschlüssigkeit zu verbergen, vor dem Strandkorb auf und ab und konnte Esthers Gesicht in der Dämmerung nicht mehr erkennen, nur ihr rotes Handtuch leuchtete mir wie ein Schild entgegen, derweil sie in bösartigster Fröhlichkeit weitersprach:
    »Aber immerhin – sterben hin oder her –, seine bloße Kopulation verlängert seine Existenz, frischt seine Nährlösung auf, und das können ja nicht viele Leute von sich behaupten.«
    »Du glaubst, darum geht’s mir hier, ja? Erfrischung, ja?«
    »Klar, was denn sonst, erzähl mir doch keinen Scheiß, Mann! Nur weil ich fünf Jahre jünger bin als du und noch nicht das halbe Sanitätswesen gebumst habe, bin ich doch nicht doof!«
    »Na, das könnte ich aber einfacher haben, dafür müsste ich mir nicht –« »Ach, halt den Mund, ich weiß doch, wie ihr alle das so macht … alles.«
    »Wir alle … alles?«
    »Ja, ihr ausgezeichneten … ihr Auszeichnungsleute am Liwadija-Sanatorium, ihr … ja …«
    Sie brach ab und ich dachte, sie würde weinen, aber sie weinte nicht, sondern ließ nur den Kopf hängen, und ich setzte mich wieder neben sie. Wir saßen eine Weile fröstelnd nebeneinander, dann atmete ich schwer aus und nahm ihre Hand:
    »Weißt du, erstens hast du in deiner Protzerei unterschlagen, dass in dir nicht nur all diese schwarzen Faulschlämme sind, sondern in deiner obersten Schicht auch der Delphin mit immerhin drei Arten vertreten ist, und zweitens dürfte dir vielleicht langsam auffallen, dass ich dadurch, dass wir noch immer hier sitzen, was, nebenbei bemerkt, wenig erfrischend ist meines Erachtens, meine komplette Nährlösung samt Petrischale aufs Spiel setze.«
    »Hm …«
    »Wie bitte?«
    »Es tut mir leid, das wollte ich nicht – wirklich nicht.«
    »Schon gut, darum geht’s ja nicht.«
    »Ich kann dich gar nicht sehen«, sie hatte mir endlich den Kopf wieder zugewandt. »Es ist so schwarz plötzlich, es sieht aus, als wäre nicht nur die Sonne untergegangen, sondern gleich

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