Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Steigungsstufe.
Auf dem Weg unter die Dusche rief ich Esther wieder an, aber ihr Telefon war noch immer oder schon wieder ausgestellt, und so entschloss ich mich übermütig, vor dem Mittagessen noch schnell zu ihr hinüber nach Koreis, ins Djulber-Palast-Sanatorium, zu laufen. Obwohl wir Liwadija-Leute deutlich über den Studenten vom Djulber-Palast rangierten, waren all unsere Palastgebäude, Gartenanlagen und sogar der Weiße Saal, in dem wir wöchentlich unsere überaus verbindlich unverbindlichen Abendessen absolvierten, jederzeit frei zugänglich, während Djulber seine weißgoldenen Fantasieminarette, türkisfarbenen Märchenmoscheekuppeln und palmenumsäumten Innenhofbrunnen nicht nur mit einer hohen weißen Außenmauer vor der Welt abschirmte, sondern auch in seinem Inneren einer verzauberten Festung glich, als hätten sich die Romanows noch immer hier verschanzt oder stünden hier eher noch immer unter Arrest. Bis ich zu Esthers Station durchgedrungen war, hatte ich an sieben Schleusen meine Karte durch ein Lesegerät ziehen müssen, um am Ende doch nicht zu ihr zu gelangen, weil sie gerade in der Eiweißproduktion war.
So blieb mir nur, durch das große Bullauge der roten Labortür zu spähen und sie von hinten zu sehen, in Reih und Glied mit ihren Kommilitonen, den Kopf hochkonzentriert über das Mikroskop gebeugt, aller Wahrscheinlichkeit nach damit beschäftigt, ein Leuchtkäfer-Gen in ein Escherichia-Coli-Bakterium einzuschleusen, denn so fangen wir alle an, und ich dachte, dass alles an ihr hochkonzentriert ist und alles an ihr spricht und dass ihr Hinterkopf ein offenes Buch ist, in dem ich lesen konnte, wie unglücklich sie war und wie tapfer. Leicht gekränkt, vor allem aber unerklärlich euphorisch stand ich da und starrte sehnsüchtig auf ihr hygienevorschriftsgemäß hochgestecktes Haar und ihren blassen Nacken, der über dem strahlend weißen Kittelkragen sonderbar fehlfarben aussah. Ich wollte warten, bis ihre Eiweißstunde vorbei wäre, wollte ihr sagen, dass es keinen Grund gab, unglücklich zu sein, aber als sie plötzlich den Kopf hob und ihn leicht zur Seite drehte, als lausche sie einem störenden Geräusch hinter sich, sodass ich den Atem anhielt und schon hoffte und fürchtete, sie würde sich gleich ganz zu mir umdrehen, fiel mir durch diese kleine Abweichung ihrer Haltung von der ihrer Kommilitonen auf, dass diese versteinerten anderen neben, vor und hinter ihr ja leider keine bloßen Attrappen waren, und ich Esther also hier ohnehin nicht würde allein sprechen können. Obwohl ich wusste, dass das ein lausig zurechtgezimmerter Vorwand war, lief ich schleunigst davon.
Zurück auf meinem Flur traf ich meinen Zimmernachbarn, der mich fragte, ob ich nachher mit ihm und ein paar anderen Leuten zur Fortbildung rüber ins Klinikzentrum von Sewastopol fahren wolle, und zerstreut sagte ich ihm zu, eigentlich nur um ein längeres Gespräch mit ihm zu vermeiden und so schnell wie möglich die Tür hinter mir schließen zu können. Ich würde ihr schreiben, einen Brief, auf Papier, und ihn ihr persönlich geben, sodass niemand außer ihr ihn würde lesen können.
Ich wollte ihr schreiben, dass es schon sein mochte, dass ich ein Protist und Agamist sei, auf geradezu lasterhaft fertile Weise steril oder eher auf lasterhaft sterile Weise fertil, dass aber der passionierte Junggeselle prinzipiell der bessere Symbiont sei, der einzige, den man heiraten solle, der einzige, der wirklich zu lieben verstehe, weil der Agamist, da die Agamie und die Agape schließlich aufs Engste miteinander verbunden seien, derjenige sei, der wisse, dass die wahre Agape, die wahrhaft göttliche Gottesliebe, und der Eros ein und dasselbe sind, er allein wisse das, da er frei vom Teilungs- und Trennungswahn sei, von dem die anständig langweiligen Symbionten in ihren genealogischen Übersprungshandlungen besessen seien. All das wollte ich dir sagen, und so schob ich den Rechner auf meinem Schreibtisch zur Seite, beugte mich über das Papier und begann mit ungewohnt ungelenker Hand:
»Esther, böse Nisowka, geliebte Temarinda, schlimmer heller Strudel, cara querida Karadeniz, geliebte Karaima, Geliebte Geliebte Geliebte, die du mir meine Unschuld wiedergegeben hast, indem du mein jungfräuliches Herz –«
Doch dann brach ich erschrocken ab, besann mich meines Schlechteren, zerknüllte den Brief und schrieb stattdessen nur eine kurze Telefonnachricht: »Liebe Esther, ich fahre gleich mit ein paar Leuten rüber nach
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