Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
noch immer seine Geburt hinauszögert, ist er erstaunlich weit gekommen, meinen Sie nicht, Ariane?«
»Schon, aber sehen Sie, Herr Doktor«, sie stellt sich direkt hinter mich, drückt mir sanft ihr Knie in die Kniekehle und träufelt ihre plötzlich warme Stimme in mein überreiztes Ohr, aber umsichtig verschließt Referent alle meta- und paralimbischen Zugänge zu mir. »Es kann doch nicht sein, dass Sie so eine große Sache daraus machen, die meisten Patienten hier wurden schließlich irgendwann von irgendjemandem irgendwo verlegt und dann hier abgelegt, und ich fürchte, dass Sie den Jungen von Anfang an verzogen haben, ihn noch immer verziehen, und das können wir doch nicht begrüßen, nicht wahr, Herr Doktor?«
»Ach, Unsinn, das verstehen Sie nicht!«
Leichthin schüttele ich sie ab, und erstaunlicherweise unternimmt sie keinen zweiten Überzeugungsversuch, sondern weicht wie erschrocken in eine Ecke des Bads zurück und hält sich mit gespreizten Händen an der Glaswand fest. Bis auf diese pathetischen Hände decken sich ihre Körperumrisse nun nahezu mit denen der neugierigen alten Nachbarpatientin, die wie üblich an der Wand klebt, wenn es ein Wasserritual zu beobachten gibt. Ich wende mich von dem lästigen weißen Doppelschatten ab und dem mittlerweile etwas fröstelnden Jungen wieder zu:
»So, Evelyn, raus mit Ihnen!«
»Abér nein, abér nein, abér nein, nein, nein!«
»Doch, doch, doch! Und hopp! Hopp Höppchen!« Ich greife ihm unter die Arme, ziehe ihn hoch und fange an, ihn abzutrocknen. »Sonst sind Ihre Lippen gleich wieder schwarz, und außerdem müssen Sie sich noch rasieren, mein Junge.«
»Abér nein …«
»Aber doch, und hören Sie mit diesem albernen abér auf!«
»Das kann ich nicht, das stumme e im normalen aber gibt mir heute keine ausreichende Sicherheit gegen böse Einmischungen in meine inneren Angelegenheiten, ich muss es akzentuieren, weißt du?«
»Hmhm, soso«, immerhin habe ich ihn schon bis vor den Spiegel gezerrt und rubble ihm die Haare trocken, er kneift Augen und Mund zusammen, aber sein munter schnaufender Atem kündigt eine schlimme Plapperlaune an, um so schlimmer, als wir jetzt gleich auch noch allein sein werden, weil Ariane ihre Komödie heute so weit treibt, dass sie sich an den Glaswänden entlang wie aus einem Raubtierkäfig zur Tür hinaushangelt. »Wir wollen uns jetzt beeilen, einverstanden?«
»Ja Papa, abér ich will dir nur schnell erzählen, dass das abér mein Hauptzauberwort gegen alles Böse ist und …«
»Abér das weiß ich doch, jetzt mal endlich rasieren, bitte! Ich hab heute auch noch …«
»Ja, abér was du nicht weißt, ist, wo ich das Wörtchen herhabe, ich habe es nämlich aus den Anfangsbuchstaben aller heilskräftigen Gebete zusammengesetzt, und an richtig schlimmen Tagen hänge ich noch ein Amen dran – abér Amen! Dann kann mir wirklich nichts mehr passieren. Nicht dass ich dran glauben würde – ich bin ja nicht abergläubisch, sondern nur abérgläubig –, abér es hilft«, er lacht auf wie über einen Scherz, den jemand anders gemacht hat, und ich lasse ihn weiter plaudern, denn immerhin seift er sich dabei jetzt brav die Wangen ein. »Abér eigentlich bedeutet es etwas ganz anderes, denn – ich will dir ein Geheimnis verraten, Papa – in Wirklichkeit ist das abér eine Angleichung an das Wort Abwehr , es ist also nicht eigentlich ein Bannwort gegen das Böse, sondern eher eine Abwehrformel gegen das Gesundwerden.«
»Ach, bitte nicht wieder diesen alten Blödsinn, Evelyn!«
»Abér warum denn nicht? Lass mich doch, das ist doch wirklich eine gute Erklärung, mit der ich auch einmal wie die Alten sagen kann: und so ließ sich alles sinnreich übersetzen . Weil eigentlich spreche ich nämlich eine schöne alte Zwangssprache, glaub mir, Papa, einen ausgestorbenen hysterischen Dialekt. Und wenn ich auch nicht gestorben bin, so lebe ich doch auch nicht, denn was ist es anderes, Papa, was ich sagen will, als dass ich nicht weiß, woher ich gekommen bin in dieses – soll ich sagen Sterbeleben oder Lebesterben? Was meinst du, Papa? Wie soll ich sagen, hm? Sag’s mir, mein armer, armer Vater, der du durch meine Schuld, durch meine große, große …«
Ich höre nicht länger auf den seltsam heiteren Singsang seines Geredes, schaue ihm nur versunken im Spiegel dabei zu, wie er sich geschwind und geschickt rasiert, mit den exakt gleichen Bewegungen, mit denen ich mich rasiere, was nicht weiter verwunderlich ist,
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