Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
der Großen Krankheit zu kokettieren, oder? Und das kann man von Ihnen leider …«
Ich breche ab, weil sein Gesicht sich wieder ängstlich verdüstert, und greife nach oben, um ihm seine Flasche zu geben, aber er hält meinen Arm fest:
»Erhöre mich, Papa, um des Arztes unserer Wunden willen, der am Holze hing!«
»Schon gut, ich höre dich doch, ich höre dich! Immerhin nehme ich dich jetzt mit nach draußen, das ist doch schon mal was, oder?«
»Ja, vielleicht«, er scheint über meine Worte nachzudenken, nickt ein paarmal langsam und strahlt mich dann an. »Ja, das ist ein Anfang!«
35.
Referent taucht mit frischem Verband und Kindpatient in der Terrassentür wieder auf, bleibt verdutzt auf der Schwelle stehen, weil Frau von Hadern und der Professor an ein und demselben Tisch sitzen und Pfleger O.W. keineswegs als Deeskalator, sondern lediglich als stumm zwischen ihnen über seinen Teller gebeugter Statist benötigt wird, dekorativ wie die weiße Porzellanvase mit dem blassvioletten Flieder vor ihm, so einträchtig schwatzend essen Patient und Patientin miteinander.
In die Sonne blinzelnd betrachtet Referent die Scherenschnittprofile der beiden, spielt mit dem Gedanken, angesichts heute an seinem Tisch zu erwartender gesteigerter Anstrengungen doch hinüber in den bei diesem Wetter ausschließlich den schweren Fällen überlassenen Speisesaal zu gehen, zumal Kindpatient Referent in diesem Sinn an Kittelellbogen zupft. Doch da hebt O.W. den Kopf, sein verschleiert über dem Flieder schwebender Blick klärt sich, als er mich sieht, minimal grinsend zuckt er mit den Schultern, und bevor Evelyn weiß, wie ihm geschieht, platziere ich ihn neben mir am Tisch.
O.W. murmelt uns nur ein diskretes Guten Tag, Herr Doktor, Hallo Evelyn zu, streicht dann seine weiße Lederkrawatte glatt und versenkt sich wieder in seine Brennnesselsuppe, derweil die beiden anderen uns euphorisch begrüßen und die Klinikleitung und den Sonnenvater für das gute Essen, das schöne Wetter und die weise Einsicht loben, mittags neuerdings auf eine musikalische Unterlegung der Mahlzeiten zu verzichten. Denn durch den dadurch deutlich vernehmbaren Grundbass der Stille , so Frau von Hadern mit in Evelyns ängstlich verständnislose Richtung gezwinkertem Stolz auf das Paradöxchen des Tages, stelle sich der heilkräftige Kontakt mit der Maiennatur ganz automatisch schon beim Essen, ohne pranayamische Anstrengungen, ein – und ganz ohne Flaschennuckeln, wie der Professor mit einem ebenfalls in Richtung Evelyn rügend wackelnden Zeigefinger hinzufügt. Immerhin scheint das hochspirituöse Geschnatter der beiden nicht auf unsere Responsfunktionen ausgerichtet, und so höre ich ihnen nicht mehr zu, schnüffle stattdessen über den Tisch gebeugt mit unschicklich halbgeschlossenen, und, wie ich fürchte, sogar ein wenig flatternden Lidern am Flieder, der in der Vase seinen frischsüßen Duft leichthin, ohne jedes Bereuen aushaucht. Und während ich meinen Atem mit dem des Flieders zu synchronisieren suche, vernehme ich ihn plötzlich tatsächlich, tief unter dem Patientengerede, den Grundbass der Stille, oder jedenfalls ein sonderbares Brummen, unsauber gleitend moduliert, ein bösartiger basso con tenerezza . Das ist er also, denke ich, jetzt ist er da, jetzt kommt er mich holen, der Strom des Melos , trägt mich mit sich ohne Wiederkehr.
Aber nichts dergleichen geschieht, weil Referent mir die Augen öffnet, mich darauf hinweist, dass es sich lediglich um meinen treuen alten Tinnitus handelt, der fast zwanzig Jahre lang zu all dem hier geschwiegen hat und mich nun erneut heimsucht. Ich frage meinen Tinnitus nicht, was er von mir will, warum er ausgerechnet jetzt zu mir zurückkommt, sondern schenke meine nutzlose Aufmerksamkeit wieder meinen Tischgenossen. Und so hat die Tagwelt oder eher die des ewigen Mittag mich wieder, und ausnahmsweise bin ich dankbar dafür, dass Evelyn mit angeekelt zusammengezurrtem Mund versucht, die Brennnesselsuppe durch bloßes Löffelrudern zum Verschwinden zu bringen, und zu seiner Überraschung erlasse ich sie ihm ohne das übliche Hin und Her.
»Wissen Sie, was ich gerade dachte, Gnädigste?« Der Professor umkreist, während ihm die Suppe abserviert und der Hauptgang aufgetragen wird, tupfend seinen gespitzten Mund mit der Serviette und versichert sich dann mit einem heimlichen, gebändigt panischen, von ihm selbst sicher kaum noch bemerkten Griff an die ausgebeulte Außentasche seines Sakkos, dass seine
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