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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Meier
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schließlich habe ich es ihm beigebracht, und obwohl er aussieht wie mir aus dem Gesicht oder eher aus einer alten Fotografie von mir herausgeschnitten, sehe ich jetzt, wo er so ausgelassen plappert und dabei immer wieder hell gurgelnd auflacht über seine kindischen Abwehrspäße, nicht mich, sondern nur dich in ihm. Ich sehe dich im Spiegel, über ein anderes Waschbecken gebeugt, plappernd und lachend und, statt wie Evelyn mit dem Rasiermesser, mit der Zahnbürste unablässig herumgestikulierend, sodass alles genauso vollgespritzt wird in diesem Bad, in einem anderen Bad. Und plötzlich verschwinden die Glaswände um mich herum, und ich stehe wieder im Freien eines gemauerten Zimmers, nicht im Liwadija- und auch nicht im Djulber-Palast, gar nicht in Jalta, nein, sondern oben in Kertsch, in unserem kleinen Bad, blasstürkis gekachelt, mit einem undichten Fenster und einer verzogenen Tür, die sich, so oft man sie auch ölt, nervtötend quietschend öffnet und schließt, und die mich jede Nacht aufweckt, weil du andauernd aus dem Bett ins Bad und wieder zurück schlüpfst, wo dich nichts halten kann, und ich kann nicht verstehen, warum das so ist. Was selbstverständlich eine Lüge ist, denn ich weiß ja, dass du nicht wegen deiner Pinkelsucht so herbstlich unruhig über den Flur hin und her wanderst, sondern weil du mir den Weg, meine nächtlichen Wege zu dem riesigen, kastenförmigen Garderobenschrank neben der Wohnungstür versperren willst, zu diesem Monstrum, über das wir bei unserem Einzug so gelacht haben und in dem ich mich bald darauf nachts heimlich einzuschließen begann, um mich im grellfunzeligen Licht einer kleinen, eckigen, in Schläfenhöhe waagerecht wie ein Nagel aus dem splitterigen Fichtenholz ragenden Glühbirne an den schwarzfleckigen Spiegel zu pressen und den gewisperten Instruktionen meines Referenten zu lauschen.
    Mit einem unterdrückten Aufstöhnen schlage ich mir die Hände vor die Augen, verjage dich und mich und alle unseligen alten Bilder von uns und sehe wieder den Jungen vor mir, und so dringt auch sein plätscherndes Gerede nach und nach wieder zu mir durch:
    »… manches ist gut, manches ist schlecht, denn sieh mal, Papa, es kommt ja drauf an, was es einem so zuflüstert. Das Gebot, sich den ersten möglichen Prüfungstermin im Semester zu nehmen, könnte man sich ja noch gefallen lassen. Wie abér, wenn dir das Gebot käme, dir den Hals mit dem Rasiermesser abzuschneiden? Oh je! Oh jemine! Jetzt ist es ausgesprochen …, gesagt, getan, schwuppdiwupp …«
    »Um Gottes willen, Evelyn!«
    Im letzten Moment gelingt es mir, ihm das Rasiermesser von der Kehle zu reißen, ich muss ihm dafür nicht nur in den Arm, sondern ins offene Messer fallen und schneide mir dabei tief in die paradiesische Bucht zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich klemme schnell ein Handtuch in die Wunde, ziehe Evelyn mit der anderen Hand zu mir heran. Er wehrt sich nicht, als ich mich mit ihm in den Armen und vor Angst schnaufend auf dem Fliesenboden niederlasse, sondern beschimpft mich nur kleinlaut:
    »Du Lampe, du Handtuch, du Teller … !«
    »Ja, ist ja gut, Evelyn, ich mache es wieder gut, ich mache alles wieder gut, mein Junge.«
    »Du blutest wie ein Schwein, Papa.«
    »Woher willst du denn wissen, wie Schweine bluten, hm?« Ich wische ihm lächelnd die Tränen weg, wie ein schwächliches Echo lächelt er zurück, und idiotischerweise frage ich mich, ob ich die beiden Blutstreifen, die ich ihm beim Tränenwegwischen quer unter die Augen gemalt habe, nicht ordentlicher hätte auftragen können. »So, ich lasse meine Hand kurz bei Dr. Bulgenow nähen, und dann gehen wir Mittagessen, und zwar nicht in den Speisesaal, sondern raus auf die Terrasse, einverstanden?«
    »Wieso bei Dr. Bulgenow und nicht bei Kernanatom Dr. Tulp?«
    »Naja, weil Dr. Tulp sich jetzt automatisch nach meinen Schlafsaalaufzeichnungen erkundigen, sich eventuell sogar meinen Mediator noch mal anschauen würde, während Dr. Bulgenow nie was wissen will, selbst schlimmste Schussverletzungen versorgt er, ohne ein Wort zu sagen, ohne auch nur die Zigarette im Mundwinkel zu heben.«
    »Das ist gut, so ein Arzt, nicht wahr, Papa? Einer, zu dem man einfach sagen kann: Sieh, meine Wunden verhehle ich nicht: Arzt bist Du, ich bin krank; Du bist erbarmungsvoll, ich bin erbärmlich. Heile all mein Krankes, denn viel und groß ist dies mein Krankes .«
    »Na na, Evelyn, Sie wissen doch, dass man im Grunde schon sehr gesund sein muss, um derart mit

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