Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
mehr auch nicht. Und Sie müssen immer sehen, das eigentliche Risiko trage ich, nicht Sie, denn ich kann mich ja am Ende doch nie eintauschen, noch nicht mal für einen Centime, ich bekomme die Ware ja selbst auch nie im Leben zu sehen, was kann ich da groß – was konnte ich da schon groß machen? Ach Gott, es ist ja alles vorbei, und darüber bin ich alt geworden, älter als Sie alle hier jemals sein werden …«
Ihre Stimme schwankt auf einmal bedrohlich über ihrer abgrundlosen Weinerlichkeit, doch zum Glück bereitet Raffaele, der versierteste Klinikkellner, der nun den Hauptgang abräumt und das Dessert serviert, der Szene eine kleine Zäsur, die kraftlosem Referenten endlich den Mund öffnet:
»Ganz recht, all das ist lange her, lange vorbei, und so müssen Sie doch hier nicht mehr diese unwürdige Komödie des Geldzurückgebens aufführen, nicht wahr, Gnädigste?«
»Jaja«, sie zuckt defensiv mit der schräg vorgeschobenen Schulter wie ein bockiges junges Mädchen und stochert in ihrem Dessert herum. »Ich möchte doch nur, dass Sie auch mich einmal, auch meine Tragik ein wenig verstehen, Herr Doktor, schauen Sie, ich kann nichts im Leben, aber alles auf der Station. Ich bin die Romy Schneider der klinischen Welt! Aber weil ich alt und vertrocknet bin, interessiert sich dafür niemand mehr, niemand!«
»Aber aber, wer wird denn …«, der Professor tätschelt ihr die Hand. »Sie sind doch nicht alt, Gnädigste, eine Frau wie Sie ist doch jenseits …«
»Papa, ich kann nicht mehr!« Evelyn hält sich gequält die Ohren zu und schreit dadurch fast: »Können wir auf die Wiese, bitte?«
»Sie sollten dem Jungen nicht dauernd erlauben, Sie Papa zu nennen, Satanssonde, das ist nicht gut für ihn – und auch für uns nicht, für keinen von uns.«
Ich nicke O.W. zu, der sofort aus seinem vollgefressenen Halbdämmer aufschreckt und wieder auf Bereitschaft schaltet. Ohne mich vom Professor und Frau von Hadern zu verabschieden und ohne auf ihre empörten Nachrufe zu hören, gleite ich mit großen Schritten und Evelyn am Kittel über die Holzterrasse hinweg, als wäre sie aus Eis. Als wir den Rand der Terrasse erreichen, schiebt sich kurz ein schwarzes Bild vor meine Augen, nur für eine halbe Sekunde, aber es reicht, um den kleinen Schritt auf die Wiese in einen taumelnden Sprung ins Leere zu verwandeln.
36.
Schwer gegen die Stiche im Herzmagen anatmend hetze ich mit meiner armen Klette die Wiese hinab, bis fast hinunter zum ersten Gatter, wo wir uns im Halbschatten einer jungen Eiche vor einem der Rosenrondelle niederlassen. Und dann hat die liebe Seele auf einmal Ruh, ich strecke die Beine lang aus, und Evelyn setzt sich sichtlich zufrieden in den Kuhkopf, Gomukhasana , nuckelt versonnen vor sich hin und weist mich schläfrig, ohne die Flasche aus dem Mund zu nehmen, mit dem Kinn auf unseren Spitzenamnestiker hin, den ich mal wieder gar nicht bemerkt habe. Was kein Wunder ist, er steht immer so still und stumm in seinen Rosen herum, dass man ihn meist übersieht oder eher nicht eigentlich übersieht, sondern sogar sehr genau sieht, vor allem seine pastellgelbe Filzjacke mit den großen runden Knöpfen daran, die auszuziehen er sich selbst im Hochsommer weigert und die von den Rosendornen überall kleine Fetzlöcher hat, kann man gar nicht übersehen, genau wie seine silbernen langen Haare, aber man nimmt sie hin wie etwas im Bild, worauf es nicht weiter ankommt – und so geht es einem mit dem ganzen Mann. Wenn man ihn dann aber tatsächlich sieht, erschrickt man immer für einen Moment. Im Winter, wenn er nicht in der Rosenblüte steht, weiß man gar nicht, wo er ist, vermisst ihn aber auch nicht, und erst wenn sich Ende April, Anfang Mai wieder die ersten Rosen öffnen, fällt einem auf, dass man ihn monatelang ganz vergessen hatte. Jeder Arzt hier glaubt, er müsse wohl auf einer der jeweiligen beiden anderen Stationen Patient sein.
Vor zwei Wochen also hat er seine Saison eingeleitet, und während das Maienlüftchen uns nun die Wangen streichelt, schauen wir ihm dabei zu, wie er sich mit geschlossenen Augen über die allererste Rosenblüte des Jahres, über die wie immer allererste seines Lebens beugt, und seine Hände sind locker, in heiterer Entsagung, auf dem Rücken gefaltet.
»Weißt du, Papa …«, mit einem lauten Saugschmatzer lässt Evelyn den Nuckel los und hebt sein Kinn ein zweites Mal in Richtung Spitzenamnestiker. »Ehrlich gesagt glaube ich, er verarscht uns.«
»Wie?«
Verwirrt
Weitere Kostenlose Bücher