Heimliche Helden
Glöcklein läutet, dass Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht.«
»Kannitverstan!«, war die Antwort.
Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. »Armer Kannitverstan«, rief er aus, »was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute.« Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.
Wenn jemand Geschichte um Geschichte schreibt, am Gattungsrand der sich in der deutschen Literatur eben erst entwickelnden Novelle entlang, zwischen Nachricht und Anekdote hindurch, aus Aufgeschnapptem, Erlauschtem und Unerhörtem, aus erfundenen Figuren, die manchmal die Funktionen des Kasperle übernehmen (damit man sie wiedererkennt), dann kann nicht fehlen, um einen Ausdruck aus dem Deutsch zu Hebels Zeit zu übernehmen, dass der Schreibende entdeckt, wie unter den Gespenstern, von und mit denen er handelt (seine Händel treibt und sein Geld verdient), inmitten der vergehenden Tage auch seine Sprache ein Kästchen ist.
Als Bildspur kriechen die Prozessionsraupen auch noch durch den Anfang dieser Geschichte: von Tuttlingen über Emmendingen und Gundelfingen ins weit entfernte, fremd klingende Amsterdam, den Landkartenbaum hinauf: denn alles hat »Unbestand«.
Gebratene Tauben fliegen nicht umher. Dennoch geht einer durch die Welt. Um sich zu helfen, glaubt er, Sprache sei ein Auge. Was der Handwerksbursche nicht weiß: Weder mit dem einen (Auge) noch mit dem anderen (Sprache) lässt sich »ohne Weiteres« eine fremde Welt erfassen. Kannitverstan könnte bald sein eigener Name sein. Er fragt, man antwortet, er hält für Inhalt, was Kommentar zum Sprechakt ist.
Ein einziges Zeichen baut Hebel hier auf. Es betitelt die Erzählung, ihr Subjekt und all ihre Objekte. Ein einziges Zeichen, das in einem phantasierten Niederländisch das eigene »Nicht-verstehen-können« ausspricht – so, dass man es nicht versteht.
Welch Sprach-Zug. Der das vielleicht Beste einer Sprache, das Nichtwissen-mit-ihr, für uns zum Leuchten bringt. »Kannitverstan« ist ein kompaktes Kästchen, man könnte es öffnen, der Protagonist indes missversteht es als (flaches) Etikett. Allem und jedem klebt er es auf.
In Gang kommt der wundersame Prozess, weil ein Tuttlinger Handwerksbursche eben kein Parzival ist. Er fragt. Das Staunen wächst so groß, dass er nicht mehr an sich halten kann. Hebels genaues Verb gibt es uns zu spüren: »endlich konnte er sich nicht entbrechen, einen Vorübergehenden anzureden.« Nun ist der Besucher Amsterdams kein Gespenst mehr, die anderen sehen ihn und antworten. Gespenster werden nur die von ihnen ausgesandten Zeichen. Sie bedeuten, was der Handwerker sie bedeuten lassen will.
So dringt er ins Kästchen der Stadt, ihrer Benennungen und Wege. Er »versteht« nichts – und alles.
Auch der Hausfreund wird davon infiziert. Am IJsselmeer verwandeln sich ihm die ersten beiden Buchstaben, die Wasser bedeuten, in den Buchstaben Y (der im Niederländischen manchmal durch die Ligatur IJ ersetzt wurde). Das Y seinerseits ist ein in der Bildtradition des Mittelalters hochkodierter Buchstabe, der durchaus graphisch gelesen wird: Eine von Süden nach Norden führende Straße mündet in eine Weggabelung. Man muss entscheiden, ob man nach links oder rechts weitergeht. Herkules wird gern in dieser Lage gezeigt: Herkules am Scheideweg.
Doch was macht Hebel daraus?
Einen kleinen Spaß und ein Nichts. Die mittelalterliche Bedeutung wird vergessen. Ein karges Y setzt der Kalenderautor uns vor. In der Fremde stößt man nur mehr auf zerlegte, von Bedeutungen gelöste Sprache. So wandern in einem Prosatext aus dem Jahr 1808 lose
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