Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
Vom Netzwerk:
schießen, da läuft das Zwischenwesen davon. Nichts wie hinterher – recht hat der Mann, möchte man denken, käme die scheinbar eindeutige Gespenstermoral nicht Sekunden später schon an ihr Ende. Der Tapfere stürzt ab. Ein Loch hat ihn verschluckt.
    Aufklärung? Gewiss. Und doch: Klärt man auf, gerät man sogleich in die nächste Dunkelheit.
    Es ist mentalitätsgeschichtlich und erzählerisch spannend, wie Hebel im Prozess dieser Geschichte davon handelt, dass die (alte) Ordnung des Aberglaubens benutzt wird, um neue Regeln zu installieren. Sie bestimmen über Sprechen und Schweigen, setzen Geld und Wort in Bezug. Dass Sprache in auffällig vielen der Hebelschen Kalendergeschichten eine Rolle spielt, ist wohl bemerkt worden. Warum das so ist, lässt sich nun neu verstehen. Die Merkwürdige Gespenster-Geschichte ist eine Schlüsselerzählung im Kalenderwerk. Sie macht deutlich, dass und wie sich die neue Welt vor allem um sprachliche Zeichen dreht. Und warum mancher das einfachste Wort nicht versteht.
    Vorbereitet wurde sie, im gleichen Kalenderjahrgang, durch Kannitverstan . Aus der Schule mag man sich daran erinnern, wie diese Erzählung sich um ihr Titelwort bewegt. Wie einer ein Tölpel ist. Beim Wiederlesen entdeckt man ihr glückliches Ende. Da kehrt einer heim und versteht bei einem guten Essen etwas über Leben und Zeit. Die Reise hat ihm einen inneren Schatz geschenkt. Er weiß nun, dass man nie wirklich versteht.
    So handelt der Kalender Bild um Bild von Wirklichkeit in ihren phantastischen Formen. Sein besonderer Reiz: Er tut es vormodern und doch semiotisch. Seine Kästchen sind kaum »sexuell« ver-zeichnet (zu Zeichen gemacht); sie erscheinen vielmehr als Wissensmodelle – eben weil sie Fassung versprechen. Weil sich in ihnen (noch) etwas aufheben lässt. Hundert Jahre später wird dies anders sein. In Kafkas Prozess sind die Gespenster des Schlosses dem Geld gefolgt, sie sind undurchdringlich real. Und das »Kästchen« Schloss, dieser Knotenpunkt von Herrschaft, Macht, Liebe und Prunk, hat den Menschen für immer aus seinem Inneren verbannt.
    Hebel navigiert durch eine vorfreudianische Welt. Es fällt heute nicht leicht, die Kästchen vorrangig als Zeichenmodell zu sehen. Als Schatztruhen. An die allerdings, das zeigen die vielfach munteren Gespenster und manchmal auch die »Berichte« vom Regelbrecher Zundelfrieder, die Zündschnur längst gelegt ist: Zeichen schwanken. Zwar enden bei Hebel auch die Geschichten der unzuverlässigen Zeichen so, dass man es »gut« nennen mag. Noch ist das »happy end« nicht gänzlich verbraucht. Hebels Kalenderprojekt, das sich als Publikum den einfachen »geneigten« Leser vorstellt, mag den letzten Augenblick bezeichnen, in dem dies noch gilt. Manchmal stellen sich auch hier bereits Zweifel ein. Entscheidend aber ist, dass die Zeichenhaftigkeit der Welt in diesen scheinbar ungestörten Erzählkosmos bereits Einzug gehalten hat.
    Gespensterheld. Heldengespenst.
    Ein Kalenderbuch ist ein Tagbehältnis, das uns unsere Tage bewahren heißt, eigene und fremde. Es zeigt, wie man Wirklichkeit herstellt, zusammensetzt. Wie in ihr der Faden schießt – des Körpers und der Zeit, der Sprache und des Nicht-Verstehens. Die uns geschenkten Tage entlang.
    Der Held als Prozessionsspinner, Träumer und Geistesgespinst
    Von den Prozessionsraupen
    Oft fürchten wir, wo nichts zu fürchten ist, ein andermal sind wir leichtsinnig nahe bei der Gefahr. In unsern Eichwäldern hält sich eine Art von graufarbigen haarigen Raupen auf, die sich in sehr großer Anzahl zusammenhalten und in ganzen großen Zügen dicht an einander und auf einander von einem Baum auf den andern wandern, deswegen nennt man sie Prozessionsraupen. Oft sieht man sie langsam auf der Erde fort kriechen oder an den Eichstämmen hinauf ziehen; sie teilen sich bisweilen wie ein Strom in zwei oder mehrere Arme, ziehen eine Strecke weit so fort, vereinigen sich dann wieder und schließen einen leeren Raum in der Mitte, wie eine Insel zwischen sich ein. Oft sieht man an der Länge eines ganzen Stammes hin eine unzählige Menge leere Bälge, welche sie bei der Häutung hängen ließen. Wer im Sommer oft in Eichwälder kommt, wird sich erinnern, dieses schon gesehen zu haben. Dass solche ganzen Züge von gefräßigen Raupen an den Blättern der Bäume, wo sie hinkommen, große Verwüstungen anrichten, und das Gedeihen und die Gesundheit der Bäume hindern können, ist leicht zu erachten; doch ist das nicht das

Weitere Kostenlose Bücher