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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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weil er sonst keine Habung hatte auf dem schwachen Stamm und unvermeidlich das Gleichgewicht und das Leben hätte verlieren müssen. Endlich ließ man auf die nämliche Art noch einen Mann von Mut und Kraft zu ihm hinab, der ihm das eine Seil um den Leib befestigte, und zog alsdann unversehrt einen nach dem andern herauf. Der Herr Schulmeister aber, als er wieder Boden erfasst und sozusagen gelandet hatte, küsste er zuerst mit Dank und Gebet die Füße des Schutzheiligen, der ihm gleichsam in der Gestalt des Seils seine hilfreiche Hand hinabgereicht hatte und absichtlich um seiner Rettung willen da zu stehen schien, und dankte seinen Mitbürgern. Hernach winkte er seiner zagenden Frau und seinen weinenden Kindern, die am jenseitigen Ufer standen, dass es jetzt nichts mehr zu sagen habe. Aber auf die Frage, wie er auf den Baum herabgekommen sei, konnte er keine Antwort geben, sondern er bewies hernach als ein Mann, dem an seiner Reputation viel gelegen ist, dass er in dem Dorf auf dem Berge ein einziges Schöpplein getrunken habe und nüchtern fortgegangen sei, um nach Hause zu kommen. Was sich aber weiter mit ihm zugetragen habe, wisse er nicht, sondern, als er aufgewacht sei, sei er auf dem Baum gesessen.
    Dem Hausfreund aber ist es insofern lieb für seine Leser, dass die Sache im Dunkeln bleibt. Denn ob es gleich muss natürlich zugegangen sein, so sieht es doch wunderbarer aus und greift besser an, wenn man nicht weiß, wie. So viel ist klar auf alle Fälle: »Er hat seinen Engeln über dir Befehl getan, dass sie dich behüten auf deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen.«
    Schade, dass Hebel nicht öfter Landschaft beschreibt: wie verlockend er den Sommertag fasst, die Fahrt auf dem Fluss, die Felsen, das Glitzern des Wassers, die »hangenden« Bäumchen. Insgesamt ein wahrlich prekäres Gefäß. Dazu ein luftreitendes Schulmeisterlein! Das muss vielen Lesern Spaß gemacht haben.
    Schade auch, dass es am Ende keine Erklärung dafür gibt, wie der Mann über den Abgrund kam?
    Nein. Es darf keine Erklärung geben. Über dem Abgrund schwimmt man sowieso.
    Keine Erklärung, aber einen Scherz. Ausgerechnet dem Teufel überlässt Hebel den letzten Satz. Auf eine Zinne der Heiligen Stadt hat der Fürst der Hölle Jesus geführt: »Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich hinab! Denn es steht geschrieben: ›Er wird seinen Engeln über dir befehlen, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einem Stein stößt.‹« (Mt 4,5)
    Typisch Hebel, semiotisch raffiniert. Um die Ecke gedacht zudem: Das Ende einer Erzählung spricht ein Teufel, der die Heiligen Schriften zitiert.
    Welch deutlich zweideutiges Licht damit auf das Schulmeisterlein geworfen wird. Was es da oben auf der Bergeszinne tat und wie es ins Rutschen kam, mag jeder sich selbst ausmalen. Die Engel halfen nicht, umso besser, dass krummgewachsene Eichen in die Lüfte ragen. Und dass man in Bildern erzählen kann.
    Alles ist hier Kalkül. Der Hausfreund gibt sich durchaus stolz darauf: ohne Erklärung greife das Berichtete »besser an« – geht stärker zu Herzen. Der Stachel sitzt. Und die Rede vom »angreifen« besticht in ihrer Doppeldeutigkeit. Das Erzählen gleicht eben doch einem von einer Prozessionsraupe geschleuderten Pfeil.
    Und der Held? Da hängt er, zuletzt, schwankt. Hebel zeigt Verflechtungen, Strukturen, psychische Schaukeln. Er braucht den Helden nicht mehr, schreibt ihn fort aus seiner Welt: durch Alltag, Interaktion und Groteske.
    Nepomuk, Schutzpatron der Verschwiegenheit, schweigt.
    Nichtsdestoweniger ist, ohne etwas zu sagen, alles gesagt. Luftiges Schulmeisterlein! Die Sonne schwimmt heran.
    23 Alle Texte Hebels zitiert nach: Johann Peter Hebel, Kästchengeschichten . Ausgewählt, neu gelesen und literarisch beleuchtet von Ulrike Draesner, Lengwil 2009

Kleines Verzeichnis damals geläufiger Wörter und Namen
    Tulipane : Tulpen
    Het Ey : Het Ij, Bucht der Zuidersee, die zum Hafen von Amsterdam wurde
    salveni : mit Verlaub (aus salva venia verkürzt)
    Exküse : Entschuldigung
    vergelstert : außer sich sein vor Furcht oder Schrecken
    Gehalt : Raum, Gemach
    letz : alemannisch für ›verkehrt‹
    gemangelt : vermisst
    hürnen : auf einem Horn blasen
    Dublone : Goldmünze der helvetischen Republik
    Rempart : (franz.) Stadtmauer, Wall
    Windbüchse : Gewehr, das Kugeln mit Druckluft verschießt
    Stechgeld : eigentlich der dem Hausschlachter bezahlte Lohn
    Sankt Luciä : am 13. Dezember; die heilige

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