Heimliche Helden
Zehn Bände umfassen sie; Reflexionen, Beschreibungen von Experimenten, Widrigkeiten und Forschungskontexten greifen eng ineinander. Der Autor ordnet, schönt, fälscht, erzählt. Er, der stundenlang reglos im Sand zu liegen weiß, großgewachsen, ein Mann mit mildem Gesicht, der wie ein südfranzösischer Künstler aussieht, entpuppt sich als geschickter Erzähler. Seinen Insekten bereitet er die schönste Bühne, die er kennt, das antike Drama.
Der französische Entomologe unternimmt etwas doppelt Unerhörtes: Er wendet sich dem lebendigen Tier zu und sieht sich in der Folge genötigt, diesen neuen, eigenen Ansatz so mitzuteilen, dass andere überzeugt, besser noch angesteckt werden. Mit Insektenliebe! So treten den Versuchen in der Wiese Versuche auf dem Papier zur Seite; den Naturwissenschaftler ergänzt der Rhetoriker – und andersherum. 1912 wurde in Stockholm erwogen, Jean-Henri Fabre den Nobelpreis zu verleihen. Für Literatur. Zu Recht.
Sein zweiter Essai ist ein literarisches Experiment auf dem Boden der Naturwirklichkeit. Wie lässt sich, was der Forscher sieht, in allgemein verständliche, ja mitreißende Sprache übersetzen? Wie bestimmen diese Übersetzungen wiederum, was er in Zukunft wahrzunehmen vermag? Wie bringt er, zum Teil Jahre nach der Durchführung seiner Beobachtungen, Ketten von Experimenten und deren Modifikationen zu Papier? Wie verquicken sich Faktum und Fiktion?
Fabre bereitet seinen Insekten eine Bühne, denn der Leser soll verführt und nachhaltig begeistert werden. Der Entomologe zeigt sich nicht nur als Insekten-, sondern auch als Menschenbeobachter. Die Jahre in der Schule haben auch ihn geschult: Den Leser spießt er an den Haken Neugier, Sensationslust und Spannung auf. Giftmorde, Räubereien jeder Art, kannibalische Sexpraktiken – die Natur kommt ihm entgegen. Das kriminelle Repertoire lässt nichts zu wünschen übrig, werbend bietet Fabre es dar, verpackt in kunstvolle Dramen von Heldentum und Not.
Die Jugend will der Forscher erreichen, ihr die Freude an der Naturkunde neu vermitteln. Die Wissenschaftssprache seiner Zeit verachtet er; sie wendet sich nicht nur dem falschen Gegenstand zu (dem aufgespießten Tier), sondern befleißigt sich auch eines Jargons des Geheimwissens und der Abschreckung. Die Wirkungsästhetik des Autors der Erinnerungen ist besonderer Art, weil zweifach gerichtet. Manchmal liest seine Prosa sich, als solle sie nicht nur Menschen gefallen, sondern auch den beschriebenen Insekten. Sie erscheinen als tapfer, zäh, schön, zart, mutig, rätselhaft, Helden des Krieges und der Brut, gesteuert von einem mächtigen Programm, genannt Instinkt.
Erneut liegt Fabre in der Wiese, ganz Sherlock Holmes der Feldarbeit. Er lässt den Leser mitraten, tappt wirkungsvoll selbst im Dunkeln, präsentiert dann überraschend einen großartigen, induktiven Schluss, der sich in der Fress-, Brut- und Flugwirklichkeit der Insekten bewähren muss. Der Schreibversuch tilgt die Stunden der Langeweile und des Nichts im Feld. Er inszeniert den Autor als Helden, mit Macken. Wir können uns auf seine Überlegenheit verlassen – gefressen wird er nicht, höchstens gestochen. Jedenfalls aber ist unser Detektiv schrullig und verkannt, er macht Fehler, verfügt letztendlich aber über überlegenes, nur mit uns geteiltes Wissen, das er, abenteuerlich wie Old Shatterhand, der Wüste des Harmas abzutrotzen weiß.
Seine menschlichen Helfer stellt er vor und dankt ihnen, die Hautflügler indes – Trauerschweber, die leidenschaftlichen Heuschreckenliebhaber Tachytes, Dolch- und Grabwespen, Mauerbienen – nennt er seine Gäste. Das ist keine nur rhetorische Bescheidenheit. Der Autor des einzigartigen Parallelessais in Wiese und auf Papier vergisst nicht, dass er nicht nur sein Objekt beschreibt, sondern immer auch den Weg zwischen diesem Objekt und sich selbst. Diese Doppelung des Blickes und der sprachlichen Bewegung, changierend zwischen ich, wir (historisch, kulturell, anthropologisch, wissenschaftlich) und ihr (Insekten), eröffnet dem Leser eine wunderbare Möglichkeit: Man fühlt sich, als krieche man selbst in niemals gesehene Erdhöhlen ein.
1969 flog die Menschheit zum Mond. Wie oft hatte man den Trabanten aus der Ferne betrachtet, nun blickte man von nah in Krater, Steinmeere, Staub. Fabre muss sich ähnlich gefühlt haben. Er war der erste Mensch, dessen Blick in die verborgenen Brutkammern der wilden Bienen und Wespen, der Roten Ameisen und der gierigen Tachytes drang.
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