Heimspiel
sei.
Annas Augen wandern durch die Bar. Aber sie springen nicht nervös suchend. Sie flackern nicht und lugen nicht. Sie kann mit ihren Augen richtig wandern, langsam im Raum umher. Auch wenn sie mit ihren Mitspielerinnen an der Bar spricht, so können die Augen weiterziehen. Diese Augen suchen nicht wirklich, sie wollen beiläufig etwas finden. Sie wollen gefunden werden. Und so findet Netzer sie. Ihre Wanderung macht in seinem Blick Pause, ihr Gespräch nicht. Sie sieht ihn freundlich an und spricht dabei weiter mit ihren Freunden, ihre Mimik bleibt im Gespräch, ihre Gestik auch, aber ihre Augen sind schon bei ihm. Und als sie sich von der Wanderung bei ihm niederlassen, da erkennt er einen Zug von Traurigkeit. Es ist keine Traurigkeit von Drama oder Melancholie. Es ist ganz leise Traurigkeit, wie im Summen alter Lieder. Eine Traurigkeit, die einen Fremden als fremd erkennt und als Fremden wieder gehen lassen muss. Eine Traurigkeit, die Netzer gut kennt, weil sie auch ihn bezwingt.
»Die Kanzlerin möchte Sie kennenlernen«, sagt er unvermittelt.
»Ist Ihnen nichts Originelleres eingefallen?«, gibt sie enttäuscht zurück.
»Im Ernst, sie möchte Sie treffen.«
Anna wird in den kommenden Wochen alle Spiele der deutschen Herrennationalmannschaft in Begleitung der Kanzlerin ansehen. Über eine Talkshow wird verbreitet, dass beide manchmal auch unerkannt in ein Stadion gehen, weil sie den Fußball so lieben. »Wir haben eine Fußballkanzlerin« heißt der Titel der Sendung, und der Regierungssprecher bedankt sich beim Moderator mit dem Hinweis, dass die Kanzlerin sehr gern zur Vernissage in die Galerie seiner Frau in den Hackeschen Höfen komme. Anna begleite sie.
So wird Anna zur unfreiwilligen Wahlkampfhelferin, denn Anna ist beliebt. Doch Anna kann nicht verhindern, dass Sat.1 sich wieder meldet.
»Wir werden die Frankfurt-Geschichte unmittelbar nach dem WM-Halbfinale, vier Wochen vor der Wahl bringen. Ziehen Sie sich warm an.«
Die unverhohlene Drohung lässt den Regierungssprecher direkt ins Kanzlerinnenbüro stürmen. Er platzt in eine Besprechung mit den Spitzen des Wirtschaftsverbandes. Die sitzen wie Schulbuben vor ihrer Lehrerin, und gerade bei dem Satz »Meine Herren, Sie werden den grünen Frosch schlucken müssen« unterbricht der Regierungssprecher. Sie mag das überhaupt nicht, verlässt aber für einen Moment den Raum. Im Vorzimmer flüstert er ihr zu, dass Sat.1 die Nummer mit dem Frankfurter Mann kurz vor der Wahl und auf der großen internationalen Bühne der WM platzieren wolle.
»Na, denn soll’n die ma ruhig, wa«, gibt sie betont berlinerisch zurück und kehrt direkt zu den braven Wirtschaftsbuben zurück. Der Regierungssprecher dreht ab und sucht die Büroleiterin.
»Was machen wir jetzt?«, fleht er sie an.
»Gar nichts.«
»Wir lassen also kurz vor der Wahl auf der Weltbühne einer Fußball-WM mit einer Milliarde Zuschauern unsere Kanzlerin zum Spottobjekt eines Skandals werden?«
Kaum kann sich die Panik in seinem immer noch jungenhaften Gesicht verbreiten, da kommt der Kanzleramtschef herein.
»Der Fraktionschef und die Hessen stecken hinter der Frankfurt-Nummer. Auch unser Fahrer Ronny war illoyal, ich habe ihn der Fahrbereitschaft unserer Sozialministerin zugeteilt.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragt der Regierungssprecher.
»Sie kümmern sich um eine glaubhafte Positivgeschichte zur Erklärung dieser Eskapade. Unsere Büroleiterin kümmert sich darum, dass die Kanzlerin keine weiteren Ausflüge dieser Art übernimmt, und ich kümmere mich um den Fraktionschef.«
Zwei Tage später erklärt der Fraktionschef in einem ganzseitigen FAZ -Interview vollkommen überraschend seinen Rückzug aus der Politik.
»Ich stehe nach der Bundestagswahl für keine Spitzenämter mehr zur Verfügung. Diesen Schritt habe ich für mich vor langer Zeit entschieden und geplant, denn mein Leben ist mehr als Politik. Es ist Zeit für einen Generationswechsel, und ich wünsche der Kanzlerin noch viele Regierungsjahre – weil es für Deutschland das Beste ist.«
Er übernimmt den Vorsitz im Rat für Nachhaltige Entwicklung und wird Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Solarfragen. Zudem gründet er ein Institut für energetische Kommunikation und verdient mit den Beratungsmandaten der Solarindustrie so viel wie nie zuvor in seinem Leben. Der wahre Grund für seinen Rücktritt wird nie bekannt, er schlummert noch heute in dieser einen Akte des Kanzleramtschefs, die dieser wiederum
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