Heinrich Spoerl
unterschiedlichen Geschmack. Tillergirls sind Auswahlsendung. So kann jeder für sich (das heißt für sein Opernglas) das richtige finden. Der ausgemachte Schlemmer kann sogar kombinieren. Ein liebes Gesichtel hat die zweite von links – die Rechtsaußen hat bessere Beine – aber die vierte drüben hat – ich weiß nicht, was sie hat; jedenfalls kann man sich auf diese Weise ein Wunschwesen zusammenstellen, das verwöhntesten Ansprüchen genügt, mit dem Kindergesicht der einen, den Renaissancebeinen der anderen und dem je ne sais pas quoi der vierten.
Mister Tiller war Menschenkenner. Männerkenner: Er gedachte auch jener Ruchlosen, die polygame Komplexe mit sich führen. Und sich forsch und kühn zum Pascha des gesamten Rudels machen. Im Opernglas. Wie es ja die Aufgabe des Theaters als einer moralischen Anstalt ist, den Menschen zu zeigen, was sie nicht dürfen.
Angina geht als Engel
Angina Müller wollte zum Maskenball.
Die Eltern waren, wie immer, dagegen. Einstimmig, aber aus verschiedenen Gründen. Mama hatte Kostümsorgen. Das Kind hatte nichts anzuziehen, als was sollte sie gehen? Spanierin verpflichtet zu Temperament, Zigeunerin erschien ihr zu unsolide, Königin der Nacht kam schon gar nicht in Frage. Außerdem kostet das alles Geld.
Der Papa hatte noch ganz andere Sorgen. Vor allen Dingen hatte er einen Freund, der war Kanzlist beim Vormundschaftsgericht und beklagte sich jedes Jahr im November, daß ihnen der Karneval soviel Arbeit machte.
Schließlich fand man einen Ausweg. Angina soll einen Engel machen. Engel ist leicht und billig. Ein blütenweißes Nachthemdchen, natürlich mit was drunter, wird mit Silberborten abgesetzt, mit einem silbernen Gürtel gerafft, und statt des Heiligenscheines, der nicht zu bewerkstelligen ist, bekommt sie zwei niedliche weiße Flügel angeklebt, die ihr Bruder gegen zwanzig Pfennige Taschengeld aus Hühner- und Gänsefedern kunstvoll zusammenbastelt. Sie werden nicht nach den neuesten aerodynamischen Erkenntnissen gestaltet, aber sehen immerhin ungemein englisch aus.
Damit war auch der Vater einverstanden. Engel verpflichtet, und die Flügelchen waren ihm eine besondere Beruhigung: Wenn Angina sie unversehrt wieder nach Hause brachte, dann wußte man, daß ihr kein Leides geschehen war. Die zarten Gebilde an den Schulterblättern hätten das nicht überlebt.
So flatterte der Engel Angina zum Maskenball. Eine Stunde später bereits saß er hoffnungslos einsam in einer stillen Ecke und weinte kleine, blanke Engelstränchen. Ihre Freundinnen, die klingelnden Spanierinnen, die zerschlitzten Zigeunerinnen, ja sogar die finsteren Nachtköniginnen, sie hatten alle ihren Torero, ihren Zigeunerich, ihren Nachtkönig gefunden. Um sie kümmerte sich keiner. Der Typ Engel war offenbar nicht gefragt. Für Engel gibt es auch keinen Partner. Engel ist Neutrum.
Angina verfiel in Wut. Wut macht Durst. Die Flasche Wein, die sie sich anstandshalber hatte bestellen müssen, ersetzte ihr den Partner und spendete Trost.
Langsam wurde ihr leichter ums kleine Herz. Der beißende Neid ließ nach. Lärm und Musik klangen immer ferner, der Boden fing leicht an zu schunkeln und tanzte mit ihr.
Und dann fühlte sie ganz deutlich, wie ihre Flügel groß und straff wurden. Sie konnte sie jetzt auch bewegen und tat ein paar vorsichtige Schläge; sie trugen, und Angina schwebte zur Decke. Immer noch kümmerte sich keiner um sie, aber es war ihr jetzt gleich. Sie flog weiter, denn sie war ein mutiges Mädchen, und eine solche Gelegenheit zum Fliegen muß man ausnutzen. Die Fenster wichen zur Seite, der Sternenhimmel blinkte über ihr, es ging höher und höher, und auf einmal war sie dort, wo sie hingehörte: im Himmel.
Die Formalitäten am Eingang waren schnell erledigt. Ihr Gewand schützte sie vor einer peinlichen Devisenkontrolle, übrigens hatte sie nur zwei Mark fünfundsechzig bei sich. Und dann nahm sie ein himmlischer Platzanweiser an die Hand, um ihr die himmlischen Freuden zu erklären. Sie hatte ein bisschen Angst vor dem Singen; in der Schule hatte sie den Schulchor meistens geschwänzt und Haue dafür bekommen. Aber das war hier anders. Der Himmel hatte sich schon seit einiger Zeit vom Prinzip der kollektiven Freuden abgewendet; es war zu schwer, alle unter einen Hut zu bekommen, immer hatten einige zu meckern.
Jetzt hatte man den Grundsatz der individuellen Spezialwonnen eingeführt: Jeder darf sich wünschen, was er will, und schon ist es da. Und nicht nur drei
Weitere Kostenlose Bücher