Heinrich Spoerl
leichter, lockerer Sang aus glücklicher Kehle, der die Armut der Gasse zu vergolden schien. Aber niemand lauscht. Aus den Fenstern kommt Geschwätz und sonstiges Getöse, auf der Gasse spielt ein Junge mit einer Konservenbüchse Fußball, und als ich »pst« mache, lacht er mich aus: »Da Doll, wejen dem dummen Radio!«
Der Sang war darum nicht weniger schön. Aber der Junge hatte recht: Radio kostet zwei Mark den Monat, sieben Pfennig den Tag, einen halben Pfennig die Stunde. Darum braucht man sich nicht zu haben! Man kann es anstellen, so viel und so lange man will. Man kann dabei Kartoffeln schälen, Zeitung lesen, Klavier spielen, es stört einen kaum.
Ich hörte noch lange das Mädchen singen, dem keiner zuhörte, weil es so billig war.
Gesetzt den Fall, ein Matjeshering kostete drei Mark achtzig. Dann wäre er kein Hering mehr, sondern würde als ausgemachte Schlemmerei zum großindustriellen Sektfrühstück gereicht und mit geschlossenen Augen geschlürft werden. Kaviar hingegen, zu vier Mark fünfzig pro Zentner gehandelt und zu allen Mahlzeiten mit Löffeln gefuttert, wäre als Delikatesse entthront und würde wie Hering schmecken.
Dies alles wissen wir. Wissen wir auch, daß Gold wertlos würde, wenn man es waggonweise aus der Erde baggerte. Aber was wir nicht wissen: Daß dieses Gesetz auch für geistige Werte gilt.
Droht uns geistige Inflation?
Von den Büchern schwerlich. Ein Buch kostet in der Leihbücherei zehn bis zwanzig Pfennig, vom Freunde geliehen nichts, höchstens die Freundschaft. Doch bleibt die Arbeit des Lesens. Ein Buch springt uns nicht ins Gesicht, es wartet still bescheiden, bis man sich seiner annimmt, es ausschöpft, aufsaugt.
Film springt ins Gesicht, in Augen und Ohr gleichzeitig, er verlangt nicht die geringste geistige Bemühung, er denkt, redet und wunschträumt für uns, man läßt ihn über sich ergehen. Aber er kostet immerhin ein paar Groschen, und man hat auch nicht immer Zeit. Das schützt ihn etwas vor Überfütterung.
Musik vereinigt beides: Sie kostet so gut wie nichts und kriecht von selbst ins Ohr; man braucht nichts zu tun, man kann sich nicht einmal dagegen wehren.
***
Im Film gilt ein eisernes Gesetz: Alle Sprechpausen und stummen Szenen werden unerbittlich mit Musik ausgefüllt. Der Film hat einen akustischen horror vacui. Vielleicht mit Recht; man würde sonst durch das Rascheln der Bonbontüten und das Wispern der Kunstsachverständigen gestört.
Aber warum man diese Filmgewohnheit ins freie Leben überträgt und uns auch dort mit List und Gewalt jedes Plätzchen und Momentchen mit Musik ausfüllt, das weiß der Deibel. Und ich weiß es auch: Weil es die billigste Ausfüllung ist.
Musik vollbringt mit geringstem Energieaufwand gewaltige Wirkungen. Eine Drehorgel oder ein Grammophon verbraucht keine hundertstel Pferdekraft und setzt spielend einen ganzen Häuserblock unter Schall. Auch der Stoff ist billig. Bedrucktes Papier, bemalte Leinwand kostet Geld. Die Luft, die man mit Musik in Schwingungen setzt, ist gratis und vogelfrei. Die Reklameindustrie weiß, warum sie sich dieses wohlfeile Material nicht entgehen läßt. Wenn Kinos und Radiogeschäfte ihre Lautsprecher auf die Straße dröhnen lassen, so hat das noch Beziehung zur angepriesenen Ware. Wenn aber Reklamewagen, die Badeöfen oder Schuhcreme empfehlen, sich mit Musikgebrüll durch die Straßen wälzen, dann sollte man darauf schießen dürfen.
Man darf es nicht. Man muß diese und andere Musik über sich ergehen lassen, und die unvorsichtige Natur hat unserem Ohr nicht einmal einen Muskel gegeben, mit dem wir es wohltuend verschließen können.
Frühmorgens um sechs Uhr dreißig geht es los. Das Radio. Man rasiert sich zum Radetzkymarsch, das Messer im Takte schwingend, trinkt Kaffee zu Tosca und Matrosenliebe, hält Mittagsmahl mit dem kleinen Orchester, bekommt zum Nachmittagskaffee Bach und Hildach und zum Abendessen die Neunte, schluckt sein Bier zu Hawaii-Gitarren und läßt sich zur Mitternacht in den Schlaf jazzen.
Vielleicht hat man kein Radio oder stellt es ab. Aber dann hat's der Nachbar und stellt nicht ab. Außerdem sind im Sommer die Fenster offen. Dazu ein zweiter und dritter und vierter Nachbar, alle mit offenen Fenstern und Höchstleistungslautsprechern auf verschiedenen Stationen. Das vielfältige Getön überschneidet sich, reibt sich aneinander, unser Trommelfell bekommt Risse. Ich kann ein Lied davon singen. Aber ich will nicht singen. Es ist genug der Musik.
Nur
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