Heinrich Spoerl
Schalter betrachtet und die Hantierungen des Arztes verfolgt. Nun ist sie beruhigt. »Wie nett Sie das machen, Herr Doktor, Sie haben gewiß auch Kinder?«
»Nein, aber meine Frau hat einen Hund«, sagt Delius grimmig. Die junge Mutter sieht ihn an, als wäre er nicht gescheit, wickelt ihr Kind ein und entfernt sich betreten. – »Bitte weiter.«
Die bejahrte, rundliche Schwester kommt hinter ihrer Schutzscheibe hervor. »Wir sind durch, Herr Doktor. Übrigens ist es schon halb sieben.«
»Das ist mir egal«, unterbricht Delius. »wie viel waren es heute?«
»Dreiundvierzig, Herr Doktor; Sie dürfen nicht so viel ansetzen. Wenn Sie weiter so arbeiten, sind Sie mit fünfzig Jahren fertig.«
»Das überlassen Sie bitte mir.«
Die Schwester sieht ihn von der Seite an: Wie ungezogen dieser Doktor Delius sich neuerdings aufführt, er erlaubt sich mitunter einen Ton, der einem Assistenzarzt einer altgedienten Schwester gegenüber nicht ansteht. »Höchste Zeit, daß Sie jetzt in Urlaub gehen, sich mal ein bisschen beruhigen. – Was haben Sie denn vor, Herr Doktor?«
»Ich verreise.«
»Sie verreisen? Aber das geht doch gar nicht, was macht dann Ihr Prozess?«
»Der läuft! Der läuft auch ohne mich, dafür sorgen schon die Herren Anwälte – und die lieben Verwandten.«
Die Schwester hilft ihm aus der Röntgenschürze. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich an Ihrer Stelle würde jetzt nicht –«
»Gerade deswegen, liebe Schwester, mir steht das alles bis hier. Ich will mal ein paar Wochen lang nichts mehr hören und sehen von dem ganzen Theater, von Termin und Vertagung, von Schriftsatz und Beweisantritt. Können Sie das verstehen, Schwester?«
»Und wo geht es hin, Herr Doktor, See oder Gebirge?«
»Überall!« Er wäscht sich vor Begeisterung so heftig die Hände, daß der Schaum bis an den Spiegel spritzt. »Wir fahren den Rhein hinauf, durch die Schweiz, Oberitalien, und zurück durch die Dolomiten, Tirol und Bayern. Schwester, ist das ein Programm?«
»Wieso wir? Fahren Sie denn nicht allein?«
»Eben nicht«, sagt Delius und lächelt undurchsichtig.
Ach so! Die Schwester fühlt sich bewogen, dem leichtsinnigen Assistenzarzt mütterlich ins Gewissen zu reden: Sie könne sich vorstellen, daß er als allein stehender Mann, und die heutige Jugend nähme das nicht so genau, und da könnte man nichts machen, aber gerade in seinem Falle – er solle bedenken, daß er noch nicht geschieden sei, und so lange müsse er aushalten und brav sein, das verlange der Anstand.
»Ihre Phantasie, Schwester – ich muß schon sagen! Aber Sie können sich beruhigen, wir fahren nicht zu zweit. Wir fahren zu zwanzig, und wir haben alle nichts anderes zu tun als aufeinander aufzupassen. Da bin ich gut aufgehoben.«
Die Schwester kreuzt vor Schreck die Hände über dem Bauch. »Eine Gesellschaftsreise, wie entsetzlich! Sie wollen sich in solch eine Hammelherde einpferchen lassen, nur wegen dem bisschen Rabatt auf der Eisenbahn? Herr Doktor, das haben Sie doch nicht nötig.«
»Mit der Eisenbahn haben wir nichts zu tun. Sehen Sie mal her, wie gefällt Ihnen das Wägelchen?« Er zeigt ihr die Druckschrift eines Reisebüros auf Hochglanzpapier mit einem pompösen Autobus auf der Titelseite. »Was halten Sie davon?«
»Gar nichts.«
***
Man kann auch mit der Eisenbahn fahren, nach Bayern, Brüssel oder Rom, oder wohin einen gerade gelüstet. Aber da ist ein gewaltiger Unterschied. Man klettert in einen langen schwarzen Zug, erobert sich einen Platz, und wenn man nach der fahrplanmäßigen Anzahl von Stunden wieder aussteigt, ist man in einer fremden Stadt, in einem fremden Land. Von dem, was dazwischen liegt, weiß man nichts. Vielleicht warf man einen halben Blick durch das beschlagene Fenster, dann sah man geometrische Schienenstränge, graue Bahnhöfe und Überführungen, in der Ferne Dörfer oder eine Kirchturmspitze, in den Städten durchschnittene Höfe und traurige Hinterhäuser. Man durchfährt die Stunden, nicht das Land.
Mit dem Auto ist es umgekehrt. Es schmiegt sich in die Landschaft, schlüpft durch baumbeschattete Chausseen, quetscht sich durch stille Dörfer und das Getriebe der Städte und fährt an den Menschen und an den Türen der Häuser vorbei: eine moderne, zeitgeraffte Wanderung.
Der gewöhnliche Sterbliche besitzt kein eigenes Auto mehr. Er kann auch nicht darauf warten, ob er es vielleicht wieder bekommt. Es ist ihm nicht gegeben, eigenwillig und Pferdekraft verschwendend durch die
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