Heinrich Spoerl
Länder zu brausen. Für ihn ist der Autobus erfunden.
Die Eisenbahn befördert unorganisierte Massen. Das Privatauto ist unzeitgemäßer Individualismus. Der Autobus hält die rechte Mitte. Er ist genügend schnell und erschwinglich, aber er ist nicht an Schienenstränge und Fahrpläne gebunden, er fährt und hält, wann und wo man will. Der Autobus ist der Volkswagen der Zukunft, ein Sammelwagen für ein Fähnlein erlebnislustiger Menschen, und befehligt von einem Reiseleiter, der für alles sorgt und für alles verantwortlich ist.
Diese Fürsorge ist der Kern solcher Veranstaltungen. Man braucht keine Kursbücher, Atlanten und Baedeker zu wälzen und eine Reiseroute auszutüfteln, die nachher doch nicht stimmt oder enttäuscht; das Reisebüro tut dies alles mit Sachkunde und Erfahrung und unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten, der Kosten, der Zeit und der Bedürfnisse. Man geht in den Reiseladen und kauft sich nach dem Katalog eine konfektionierte Reise, die so zugeschnitten ist, daß sie jedem Käufer passt.
Die Fürsorge wird auf der Reise fast zur Bemutterung. Man hat keinerlei Sorgen, nicht um Anschlüsse und Fahrpläne, nicht um Unterkunft und Hotelsuche, noch um Passkontrolle und Wechselkurse, Gepäckträger, Trinkgelder, Schlossführungen und Besichtigungsstunden; alles ist Sache der Reiseleitung und rollt vorschriftsmäßig ab, wie es im Prospekt steht. Man braucht nichts zu denken, nichts zu tun, man wird gedacht, man wird getan. Die normalisierte Reise ist der Wunschtraum des normalisierten Menschen, der alle Herrlichkeiten der Welt genießen möchte, ohne an ihren Schattenseiten teilzunehmen.
Nun besteht aber eine Gesellschaftsreise notgedrungen aus einer Reisegesellschaft, die der Zufall zusammenweht. Die Mitfahrenden werden nicht durch Ballotage gesiebt, noch kann das Reisebüro vorher Erhebungen anstellen über Name und Art, Bildung, Charakter und Interessenrichtung; wer kommt und bezahlt, wird mitgenommen, soweit Plätze vorhanden. So entsteht eine bunte Mischung von Menschen. Alte und Junge, Anspruchsvolle und Bescheidene, Seidenflatternde und Lodengeschürzte, Erlebnishungrige und Erholungsuchende, sie alle werden unterschiedslos zwei oder drei Wochen lang zu einer Zwangsfamilie zusammengepresst, in denselben Autobus verfrachtet, im gleichen Gasthof abgeladen, an der gleichen Tafel gefüttert und durch die gleichen Erlebnisse geschleust. Daran ist nichts zu ändern. Aber eben dies, was dem Uneingeweihten als der wesentliche Nachteil der Einrichtung erscheint, ist für den Feinschmecker der besondere Reiz. Dieser wimmelnde Haufen von Menschen, die, auf kleinem Raum zusammengedrängt, miteinander auskommen müssen und sich reiben und vertragen, Parteien bilden und Cliquen und ihren Flirt haben kreuz und quer und im Kreise – entfesselte Junggesellen und abenteuernde Strohwitwen nutzen die kurzen Tage, junge Mädchen erwarten ihr Schicksal, verspätete Jungfrauen hoffen auf das große Wunder, während wohlbestallte Gattinnen über die Sittlichkeit wachen –, dies alles ist unterhaltsam und lehrreich, Miniaturmodell der menschlichen Gesellschaft. Zum Reisegenuss gesellt sich das Menschenerlebnis. Man kann auch anders reisen, für sich allein und mit der Eisenbahn, aber das ist ein gewaltiger Unterschied.
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Mit diesen und ähnlichen Gedanken erfüllt, fand sich Delius pünktlich um zehn Minuten vor acht vor dem Reisebüro ein, das sich »TUROPA« nannte und stolz darauf war, als erstes und einziges Unternehmen der Stadt solche Gesellschaftsfahrten wieder aufgenommen zu haben.
Der Autobus war bereits vorgefahren und glänzte in der Morgensonne. Gar so gewaltig wie auf dem Prospekt war er allerdings nicht, auch bei weitem nicht so blau, aber dafür hatte er ein Schild mit der Aufschrift »Italien«, ein Hinweis, der an sich überflüssig war und auch nur dazu dienen sollte, die Aufmerksamkeit all derer zu erwecken, die nicht nach Italien fahren.
Inzwischen tröpfeln aus den verschiedenen Straßen die Reisegenossen an, keine Menagerie, wie Delius sich das etwas übertrieben vorgestellt hatte, sondern eine brave Mischung von durchaus üblichen Menschen: Da ist zunächst das wohlsituierte, beiderseits korpulente Ehepaar aus dem gewerbstätigen Mittelstand, ein bisschen wichtig und anspruchsvoll und ängstlich besorgt um die beiden Lederkoffer, die nicht über das Pflaster geschurrt werden dürfen, dann ein alter Mann in dunklem Sonntagsanzug mit einem großen Regenschirm und bescheidenen
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