Heinrich Spoerl
irgendwohin fuhren, dann fuhren sie allein.« – »Heute tun sie das schon vorher«, sagt jemand.
Die Zeit drängt, man hat noch zwei Stunden bis zur Abfahrt. Zur Wahl steht: entweder mit der Seilbahn auf den Monte Piccolo, oder Besichtigung der Villa Colonna mit ihren berühmten Gärten und Skulpturen. Frau Mengwasser möchte beides, möchte aber auch noch im See baden und ein bisschen Zeit haben für die Läden und zum Einkaufen. Die Reisegesellschaft schart sich wie ein Rudel um ihren Reiseleiter und zieht mit ihm davon. Herr und Frau Delius, die mit dem Frühstück noch nicht fertig sind, sitzen plötzlich allein am Tisch, nur getrennt durch zwei leere Gartenstühle. Sie versuchen aneinander vorbeizusehen und blicken auf den See, der sich von dem schlechten Wetter noch nicht beruhigt hat und kurze harte Wellen gegen die Ufersteine wirft; sie freuen sich über die Palmen und Oleanderbüsche, die in weißen Kübeln längs der Terrasse aufgestellt sind, und lächeln über den kleinen, eifrigen Italiener, der sie zu einer gemeinsamen Wagenfahrt überreden will. Dazu scheint warm und weich die Sonne, die Luft riecht gut und erregend, und viel Schönes steht noch bevor. Alles liegt nah und greifbar und kommt auf einen zu, man braucht sich nicht zu bemühen, und es hat schon seinen guten Grund, daß dieses Land der klassische Schauplatz der Hochzeitsreisenden ist und bleiben wird. Herr und Frau Delius sitzen unbeweglich; wahrscheinlich haben sie die gleichen Gedanken, und es bedarf nur noch einer Kleinigkeit.
Diese Kleinigkeit kommt in Gestalt eines niedlichen Hotelboys, der für Doktor Delius die Post bringt, zwei Briefe in schmalem, langem Aktenformat. Der eine allerdings ist nicht an ihn gerichtet, sondern an Frau Ilse Delius. Er ruft den Jungen zurück, besinnt sich aber anders und übergibt seiner Frau den für sie bestimmten Brief mit einer leichten Verbeugung; er freut sich, einen Anlass zu haben: »Gnädige Frau, für Sie.«
Frau Delius geht auf den scherzhaften Ton ein: »Schönen Dank, Herr Doktor.« Und nun halten beide ihren Brief in der Hand, sehen sich unschlüssig an und wünschen, daß das Gespräch weitergeht. – »Von unseren Anwälten«, sagt Delius.
»Natürlich«, sagt Frau Delius.
Er befühlt den dicken Briefumschlag. »Scheinen ja recht fleißig zu sein, die Herren.«
»Das will ich hoffen.« Sie legt den Brief neben ihre Kaffeetasse. Delius spinnt das Gespräch weiter. »Sind Sie gar nicht neugierig, gnädige Frau?«
»O ja, doch.« Sie fühlt sich ertappt und reißt den Brief auf, und Doktor Delius, dem jetzt nichts anderes übrig bleibt, tut das gleiche. Beide entfalten die gegnerischen Schriftsätze und blicken gleichgültig hinein.
Aber es ist immerhin aufschlussreich, was da geschrieben ist. Frau Delius liest und glaubt nicht recht zu sehen: ›Schon fährt ihm das Biest an die Kehle? Und dann noch die Frau über ihn her? Und da ist ihm vor lauter Staunen der Teller aus der Hand gerutscht und hingefallen??‹ Frau Delius wird blaß, ihr schaudert vor so viel Lüge, sie zieht die Schultern zusammen und steht wortlos auf.
Auch Delius hat gelesen. Er wollte es gar nicht, aber seine Augen sind an den Worten hängen geblieben: ›– seine ahnungslos schlafende Gattin treffen und körperlich verletzen wollte? Ja. ihr vielleicht sogar nach dem Leben getrachtet hat? Nach dem Leben getrachtet hat?‹ Die Buchstaben tanzen vor seinen Augen und fallen durcheinander. Er knüllt den Schriftsatz zusammen und haut ihn auf den Tisch, daß die Tassen fliegen, »ja, bist du denn wahnsinnig?« Er springt auf, sein Stuhl fällt rückwärts in den Kies.
Übrig bleibt ein verlassener Tisch. Die silberne Kaffeekanne ist umgefallen und hat ihren Inhalt über das Tischtuch ergossen und einen Frühstücksteller zerschlagen.
***
Der Oberpostrat ist ein starker Raucher, aber er bezieht seine Zigarren nicht in monatlichen Kistchen, sondern kauft sich jeden Morgen seinen Tagesbedarf im Tütchen. Erstens fühlt er sich nachbarlich verpflichtet, den kleinen Zigarrenladen an der Ecke, der auch Schulhefte und Ansichtskarten verkauft, zu unterstützen. Zweitens freut er sich, durch solche und ähnliche Gänge sein pensioniertes Dasein zweckdienlich auszufüllen, und drittens kommt es dann jedes Mal mit der Ladeninhaberin, die eine weltkluge und redelustige Frau ist, zu einem Gedankenaustausch. Sie kennt die Nachbarschaft und ihre Schicksale und weiß, was sie bedrückt.
»Und was macht der Prozess, Herr
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