Heinrich Spoerl
Literatur. Die neuen Engelhornbändchen, die seinen Bücherschrank zierten, waren schnell gelesen. Ein Konversationslexikon nannte er nicht sein eigen. Die gebundenen Sonntagsblättchen der letzten Jahre wußte er bald auswendig, und auch durch die kleine Leihbibliothek des Schreibwarenhändlers hatte er sich rasch hindurchgelesen.
Blieb noch das Kursbuch, das er sich aus Anlaß seiner Kölner Reise erstanden hatte. An Hand des Kursbuches machte er phantastische Gedankenreisen kreuz und quer durch das schöne Deutschland und fuhr ausschließlich erster Klasse und Luxuszug. Und da es nichts kostete, weder auf der Bahn noch in den Hotels, noch überhaupt, so waren seinen Reisen keine Schranken gesetzt. Er sah Städte und Länder, Dörfer und Berge, Flüsse, Seen und Menschen, alles so schön und reizvoll, wie er nur wollte; es gab keine Enttäuschungen und keine Langeweile, und wenn er auf einen Anschluß warten mußte, erfand er schnell ein kleines Erlebnis. Aber dabei stieß er auf einen eigenartigen Zwiespalt seiner Seele: Nahm er Hedwig auf seinen Gedankenreisen mit, oder machte er sie allein?
Als sich seine Gedanken erschöpft hatten, kam er auf den Einfall, seinen Anton zu dressieren. In der Eile übersah er, daß Anton ein Dackel war und einen Willen und einen Eigensinn aufwies, an dem die größten Dompteure der Welt scheitern würden. Wenn er Pfötchen geben sollte, versteckte er die Beine unter den Bauch und rollte sich wie ein Igel zusammen und blinzelte mit einem Auge schief um die Ecke. Und wenn man ihn auf die Hinterbeine stellte, um ihm Männchen beizubringen, ließ er sich wie eine Gallertmasse zusammenfallen. Apportieren tat er grundsätzlich nur bei Wurst, und die apportierte er unters Bett, um sie in Ruhe zu verzehren.
***
Faletti fühlte sich seelisch bedrückt. Nicht wegen des mißlungenen Lügenkomplotts – er hatte ja jede Garantie abgelehnt –, sondern wegen der vorausbezahlten Gesangstunden, die er zur Entlastung seines Gewissens an den Mann bringen wollte. Kempenich aber war zugeknöpft bis zum Kinn, haderte mit der ganzen Menschheit und hatte insonderheit für Gesangstunden zur Zeit nicht den geringsten Bedarf. Faletti wurde dringlicher; er fürchtete, das Geld wieder herausgeben zu müssen. Das Ende vom Liede war, daß Kempenich ihn anschnauzte: »Geben Sie in Dreideibelsnamen Ihre Stunden, wem Sie lustig sind. Meinethalben meiner geliebten Tante. Dann hat die alte Vogelscheuche Beschäftigung. Ich will sie ihr gern abtreten.«
Das war ein dummer, blutiger Witz. Aber Faletti verstand in künstlerischen Dingen keinen Spaß und nahm die Zession für bare Münze. Gewiß war Fräulein Selma über den ersten Frühling hinaus. Aber er hatte es häufiger erlebt, daß vereinsamte ältere Damen sich noch der Musik in die Arme werfen, wenn andere Arme nicht mehr offenstehen. Vielleicht würde sie auch an den abgetretenen Stunden Freude bekommen und die Kunstübung auf eigene Kosten fortsetzen.
Tante Selma wohnte in einem alten, spitzwinkligen Hause, das wie eine scharfe, neugierige Nase in die Straßenkreuzung hineinschnitt und sich als Verkehrshindernis erster Ordnung erwies. In diesem vorgeschobenen Winkel im Brennpunkt der Stadt konnte sie durch die Spione ihrer Fenster Stadt und Bürger überwachen und sich diebisch über die Schwierigkeiten freuen, mit denen Karren und Wagen an dem sinnlos spitzen Winkel des Hauses herummanövrierten.
Bei ihr machte Faletti seine Aufwartung. Die Glocke war offenbar abgestellt, aber das rostige Gestänge gab einen kreischenden Laut, und im gleichen Augenblick öffnete sich im ersten Stock das Fenster. Faletti machte eine tiefe Verbeugung nach oben und erklärte, der Kanzleivorsteher habe ihn geschickt. Das verschaffte ihm Eingang in das Hexenhaus. Denn für den Fall Kempenich hatte Tante Selma ein unvermindertes Interesse und hoffte von dem Besucher darüber einiges Neue zu erfahren. Sie führte ihn mit altjüngferlicher Betulichkeit die schmale Stiege hinauf in ihre gute Stube. Es war ein vollgestopftes Museum von Altertümchen und Sehenswürdigkeiten. Tante Selma war zeitlebens eine sparsame Frau und hat niemals etwas fortgeworfen, und nun zierte es Wände und Vitrinen. Der Maestro stolperte über einen anmutigen Rehpinscher, der ihm aber nicht kläffend an die Beine fuhr, sondern aus Porzellan war und weder Fressen noch Hundesteuer kostete. Auch die sterblichen Überreste eines Spinetts entdeckte Faletti mit Wohlgefallen.
Das Gespräch begann damit,
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