Heinrich Spoerl
ein Sternchen, und sogar die Einheimischen kennen sie – dem Namen nach.
Eine gute Stunde saß er da oben, breitbeinig, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt, und ließ sich durchwehen.
Immer wieder mußte er auf den Baum starren und auf das eingeritzte Herz. In den fünf Jahren hatte sich Moos in die Kerben gesetzt. Er machte mit dem Taschenmesser die Schnitte blank, und nun stand das Herz wie neu; mit dem H-C darin.
Er saß noch eine Zeitlang, starrte auf das aufgefrischte Herz und blickte tief in sich selbst hinein. Eine Erleuchtung kam über ihn. Was er in wochenlangem Grübeln in seiner Stube nicht ergründet hatte, hier auf windiger Höhe, unter triefenden Bäumen und wehenden Wolken stand es plötzlich als Selbstverständlichkeit vor ihm.
Er erhob sich, drückte seinen Hut fester in die Stirn, raffte seinen flatternden Mantel und stieg auf dem nächsten Weg nach Weinheim hinunter.
***
Eine merkwürdige Eile treibt den Bedächtigen. Bei Geschwister Tillmanns am Markt verlangt er sechs Hemden. Jawohl, sechs Stück. Bunte, weiche Sporthemden mit angewachsenem Kragen. Dazu passende Krawatten. Nein, Querbinder. In Anbetracht des für Weinheim ungewöhnlichen und für Kempenich beinahe verdächtigen Einkaufs wird Fräulein Alma persönlich hinzugerufen und hilft aussuchen. Die andern stehen herum und sehen zu. Kempenich muß allerhand Fragen über sich ergehen lassen: Ob es für ihn persönlich sei? Ob er verreisen wolle?
Uhrmacher Sartorius ist gleichzeitig der Optiker. Die Weinheimer beziehen von ihm ihre Lesebrillen, wenn bei zunehmendem Alter das Auge noch gut, aber der Arm nicht mehr lang genug ist. Junge fortschrittliche Mütter kaufen hier ihre Badethermometer, und für den Herrn Pfarrer hat er sogar einen Feldstecher geliefert. Auch Kempenichs seltsames Verlangen konnte er befriedigen; als der Herr Kanzleivorsteher den Laden verließ, saß ihm eine moderne, dunkle Schildpattbrille quer übers Gesicht, und der alte Zwicker war in den wohlverdienten Ruhestand versetzt.
Beim Friseur gab es Schwierigkeiten; Kempenich wollte keinen Scheitel mehr, sondern das Haar nach hinten gelegt. Kopfschüttelnd und mit viel Bürsten und Öl tat es Meister Nußbaum. Aber dann kam das Unerhörte: Der Schnurrbart soll weg. Kempenich mußte es zweimal, dreimal sagen, am liebsten hätte der Meister es schriftlich gehabt. Denn wenn er weg ist, ist er weg, und es dauert lange, bis er nachwächst. Der Lehrling meinte, man könne es zunächst mal einseitig versuchen, und erhielt dafür eine einseitige Backpfeife.
Damit ist Kempenichs Verwandlung beendet. Er war angenehm überrascht, als er sein Spiegelbild betrachtete, und schaute zweifelnd an sich herunter, ob er es auch selber war. –
Frau Hedwig saß im Wohnzimmer und spielte Klavier, mit echtem Empfinden und falschem Fingersatz. Da bewegt sich langsam die Türklinke, ein vorsichtiger Spalt geht auf, und hindurch drückt sich Kempenich, schön und strahlend wie ein Griechengott, und hält einen großmächtigen Strauß glutroter Gladiolen vor sich her.
Hedwig tut, als sähe sie nichts, spielt weiter und lugt um die Ecke. Der Schumann leidet darunter. Was will Christian? Er murkst im Zimmer umher, rückt hier eine Vase, dort ein Bild. Blumen vom eignen Mann, ohne daß man Namenstag hat? Hedwig lächelt und hat Mitleid mit ihm. Einer muß anfangen: »Wolltest du etwas von mir?« fragt sie und spielt anstandshalber weiter.
Jetzt muß er etwas sagen. Er hat es sich so schön zurechtgedacht. Aber er bekommt keinen Ton aus der Kehle. Vielleicht hat er das Sprechen in den sechs Wochen verlernt. Wieder pendelt er hilflos umher, rückt Bilder und Vasen wieder schief und findet den Mut nicht. – Also muß Hedwig ihn finden. »Wie siehst du denn aus?« fragt sie; »laß dich mal besehen.«
»O findest du?« haucht Kempenich und kommt näher. Sein Querbinder sitzt schief, Hedwig zupft ihn zurecht; dabei geht er auseinander. Kempenich will helfen. Vier Hände binden.
Mit dem Querbinder fängt es an. Dann wird eine Weile nichts gesprochen. Der eine sieht den andern an und guckt schnell wieder weg, wenn der andere zurückguckt. Die Versöhnung ist nicht mehr aufzuhalten; aber noch weiß man nicht, ob sie rührsam oder scherzhaft vor sich gehen soll. Frau Hedwig entscheidet sich für das letztere und fängt an zu lachen. Kempenich lacht zurück. So lachen sie nun beide und tun, als ob sie seit sechs Wochen nichts anderes getan hätten.
Anton, der
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