Heinrich Spoerl
Harmonikastege hinweg bis in die vordersten Wagen.
Der Schlafwagenschaffner in seinem Eckchen hat es sich bequem gemacht, die harte Mütze abgesetzt und den Kragen geöffnet und ist über seinem Kaffeekännchen, das ihn munter halten soll, leise eingeduselt. Der Herr im Schlafanzug geht vorsichtig an ihm vorbei, liest prüfend die Nummern der Schlafabteile erster Klasse und bleibt vor einer der Türen stehen. Wartet eine Weile und lauscht, späht nach rechts und späht nach links; es ist nichts zu hören als das dumpfe Klatschen der Lederbalgen an den Verbindungsbrücken. Dann öffnet er behutsam das Abteil und verschwindet ins Dunkel. Die Tür geht geräuschlos hinter ihm zu und sieht wieder genauso aus wie die anderen Türen.
Nächtliche Reisende sehen nicht viel von der Fahrt. Im Halbschlaf hören sie das Rattern der Schienen und Weichen, werden wach, wenn der Zug auf einem hallenden Bahnhof scheinbar endlos wartet, vernehmen wie aus weiter Ferne Rangiergeräusche, Rufe und Signale, und schlafen weiter, wenn der Rhythmus der rollenden Räder wieder einsetzt.
Dann ist es Morgen. Die Gänge der Schlafwagen werden lebendig, Türen öffnen sich, Reisende treten auf den Gang, rauchen ihre erste Zigarette und wischen an den beschlagenen Scheiben. Meist sind es Herren, die Nachts fahren, weil sie tagsüber arbeiten oder Sitzungen haben, und wenn eine Frau darunter ist, dann ist sie schön oder jedenfalls bemerkenswert.
Auch der nächtliche Herr ist wieder sichtbar. Er trägt immer noch seinen grauseidenen Schlafanzug, auf den grell und frech die Frühsonne scheint. In diesem Gewand wirkt er befremdlich unter den Reisenden, die bereits mit Hut und Handgepäck herumstehen und sich zum Aussteigen bereitmachen.
Draußen erscheinen die ersten Vororte von Berlin. Der grauseidene Herr ist auffallend unruhig und irrt durch den Gang und die Menschen; er fühlt, daß man auf ihn aufmerksam wird und sucht den Blicken zu entgehen. So gerät er allmählich an das Ende des Wagens. Hier ist die vornehme Welt zu Ende, hier ist der internationale Schlafwagen an einen ganz gewöhnlichen D-Zug gekoppelt.
In dem nüchternen gelben Gang der dritten Klasse stehen allerlei Leute mit Koffern und Kartons, sagen hoppla, wenn sie sich auf die Füße treten, und sind böse, daß sie nicht sitzen. Ein Mann im blauen Sonntagsanzug, ein winziges Handköfferchen aus brauner Edelpappe in der Hand, ist über den Verbindungssteg ein Stückchen in den Schlafwagen getreten und guckt neugierig herum. Er besieht sich das spiegelnde Holz der Wandbekleidung und lugt scheu in die offen stehenden Luxusabteile mit Bett, Waschtoilette und Leselämpchen. Es interessiert ihn, wie reiche Leute reisen.
Da tupft ihn jemand auf die Schulter: »Hören Sie mal!«
»Ich gehe ja schon«, beeilt sich der Mann aus der dritten Klasse.
Der Herr im Schlafanzug stellt sich ihm in den Weg.
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagt er mit leicht fremdländischem Akzent. »Zunächst eine Frage: Kennen Sie mich?«
Der kleine Mann sieht ihn aus großen runden Augen an: »Nein, wieso?«
»Dann ist es gut. Ich möchte Ihren Anzug kaufen.«
»Meinen Anzug?« staunt der Mann und geht mit den Fingern über den Stoff, »den will ich aber gar nicht verkaufen.«
»Was wollen Sie dafür haben? Dreihundert Mark – fünfhundert?«
Der Mann im Anzug kalkuliert. Dreihundert Mark wäre eigentlich schon Wucher; aber fünfhundert Mark ist ein schönes Stück Geld. Er stellt sich uninteressiert. »Wenn Sie wollen, dann können Sie heute Nachmittag mal bei mir vorbeikommen, ich heiße Knittel, Hermann Knittel, Urbanstraße 163, Vorderhaus, 4 Treppen links. Soll ich es Ihnen aufschreiben?«
Der Herr im Pyjama dämpft die Stimme: »Ich brauche den Anzug sofort. Also sagen wir achthundert.« Und drängt Knittel in den kleinen Waschraum.
Der ist zwar verrückt, denkt Knittel, aber er muß es ja wissen. Er zieht Rock und Weste aus und freut sich, daß er noch gestern ein frisches Hemd angezogen hat; die blütenweißen Ärmel bauschen sich über den Gummiringen. Dann steigt er mutig aus seiner Kammgarnhose und hängt sie an die Türklinke. Da fällt ihm etwas ein: Was soll er denn jetzt anziehen, er hat gar nichts bei sich, nur ein kleines Nachtgepäck, er kann doch nicht nackt in Berlin ankommen.
»Das ist dumm«, sagt der vornehme Herr und ergreift von Knittels Sachen Besitz. »Dann müssen Sie eben das hier nehmen.«
Knittel tut einen schiefen Blick auf den Schlafanzug, der
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