Heinrich Spoerl
ausgestiegen, gleich wird die robuste Frau mit dem Wäschesack und der Armbinde kommen und ihn in seinem Versteck aufstöbern. Er hört bereits ihren festen Schritt. Darauf will er es nicht ankommen lassen. Er schlüpft in den seidenen Schlafanzug, das ist besser als nichts, beißt die Zähne aufeinander, verläßt zitternd das schützende Häuschen und klettert mit Todesverachtung aus dem Zug.
Geht in seinem schlotternden Schlafanzug, das Köfferchen in der Hand, den Bahnsteig entlang. Die Augen hat er bis auf einen winzigen Spalt verdunkelt. Er will nichts sehen um sich herum, nicht die Leute, die hinter ihm zusammenlaufen, nicht die Kinder, die mit Fingern auf ihn zeigen, und nicht die Beamten, die alarmiert sind, um ihn festzunehmen. Er zieht die Schultern ein und spürt schon ihren Griff.
In Berlin ist man duldsam, auch in Fragen der äußeren Erscheinung. Es gibt genügend Leute, die durch die Absonderlichkeit ihrer Kleidung eine billige Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Man ist daran gewohnt und tut ihnen nicht den Gefallen, man wundert sich über nichts. Und wenn man sich doch einmal wundern sollte, dann läßt man sich beileibe nichts merken; das würde nach Provinz aussehen und wäre das Schlimmste, was einem Berliner widerfahren kann.
So kommt es, daß der putzige grauseidene Mann, der steif wie ein Schlafwandler über den Bahnsteig wandelt, ganz und gar keinen Eindruck macht. Vielleicht hält man den lustigen Anzug für eine vernünftige Sommermode oder eine exotische Uniform. Knittel kommt jedenfalls ungehindert bis an die Sperre. Auch der Mann mit der Zange tut ihm nichts; er sieht den Leuten auf die Karten, nicht auf die Kleider.
Knittel wird mutig und hebt die Augen. Er ist beinahe ein bisschen enttäuscht, daß man keine Notiz von ihm nimmt. Nicht einmal die Bahnhofswache tritt in Tätigkeit. Nur eine alte Frau entrüstet sich beim Stationsvorsteher: »Sehen Sie sich das an, da geht einer im Schlafanzug!«
»Ja und?«
Inzwischen ist Knittel auf den Bahnhofsvorplatz gekommen und stürzt ins nächste Taxi. Auch der Chauffeur ist nicht weiter verwundert, er kennt das Leben: »Sind wohl en bißken unter die Räuber jefallen?« Und fährt los.
Knittel merkt, daß er wieder in seinem lieben Berlin ist. Der Wagen fährt nicht geradeaus, sondern immer um etwas herum, um einen Häuserblock, einen Platz oder eine Abbruchstelle. Staubige Morgensonne liegt auf den Straßen. Die Taxe zeigt zwei Mark vierzig. Jetzt muß er bald zu Hause sein.
Er weiß, das schwerste steht ihm noch bevor. Es sind die vier Treppen in der Urbanstraße, wo ihm allerlei Leute begegnen, die ihn kennen und achten. Er ist städtischer Angestellter und wohnt schon sechs Jahre da.
Der Wagen hält. Knittel erreicht mit einem katzenhaften Sprung über den Bürgersteig den schützenden Toreingang und geht dann links hinein zur Vorderhaustreppe. Von oben hört er Tritte. In höchster Not kommt ihm ein Einfall. Er greift sich eine Milchflasche, die vor einer verschlafenen Haustür steht, es ist ein kleiner Diebstahl, aber bei ihm hat man das auch schon gemacht. Und mit der Flasche im Arm steigt er fröhlich treppauf, sagt strahlend »Morgen« und »Danke gut« und tut ein bisschen verschlafen.
So kommt Knittel unangefochten in seine Wohnung.
»Erika?«
Knittel geht suchend durch seine Zweieinhalbzimmerwohnung. Sieht im Schlafzimmer nach, wo die Betten schon ausgelegt sind und in der Morgensonne leuchten, öffnet die Tür zu dem kleinen Wohnzimmer mit dem blumenprangenden Balkon, tut einen Blick in den schmalen Raum, wo an der Wand entlang die beiden Kinderbettchen stehen, und ist wieder in der Küche. Auf dem Tisch findet er einen Zettel: Bin mit den Kindern einholen. Küsschen.
Knittel ist eigentlich froh darüber. Jetzt hat er Zeit, erst einmal das lächerliche Seidenzeug auszuziehen. Er holt sich aus dem Kleiderschrank seinen gestreiften Wochentagsanzug und verwandelt sich schnell und gründlich wieder in einen ordnungsmäßig bekleideten Bürger. Dann setzt er sich in die Küche auf sein gewohntes Wachstuchsofa und kommt endlich in Ruhe.
Vor ihm auf dem Tisch steht der Morgenkaffee; Erika hat auf ihn gewartet. Er hat Hunger und fängt schon an. Die Aufregung ist ihm auf den Magen gegangen. Er holt das Kaffeekännchen unter dem gestrickten Kaffeewärmer hervor, schmiert sich sparsam seine Schrippe und nimmt, da es niemand sieht, drei Löffelchen Zucker und rührt gedankenvoll.
Es ist still in der Küche. Der Wasserhahn
Weitere Kostenlose Bücher