Heinz Strunk in Afrika
entgegenschlagen. Dauert ungefähr fünf Minuten, dann hat man sich dran gewöhnt, meistens wird es einem dann auch schon wieder zu viel. Egal, ich wollte mir die schönen Seiten vor Augen halten: Ich werde endlich mal wieder zum Lesen kommen. Seit einem Jahr fristet
Abbitte
, ein moderner Klassiker aus der Feder des renommierten englischen Autors Ian McEwan, auf meinem Nachttischchen ein ausgesprochenes Schattendasein. Zur Abwechslung und reinen Unterhaltung werde ich auch noch
White Line Fever
mitnehmen, die Autobiographie von Motörhead-Chef Lemmy Kilmister.
Guter Plan: Vormittags lasse ich mich von Meister McEwan inspirieren, und nachmittags arbeite ich an meinem eigenen Buch. Es soll so eine Art Kindheitsroman werden, mein persönliches
The Catcher in the Rye
werden, mehr weiß ich noch nicht. Das erste Bild hab ich schon: Ich gehe die Treppe runter, und es riecht nach Klo und kalter Zigarre, das ist der früheste Geruch, an den ich mich erinnern kann. Kindheit, das bedeutet Sehnsucht, Wehmut, Glück, Sommer, Tiere! Ich habe den Sound genau im Kopf oder vielmehr im Gefühl. Mit dem Titel bin ich mir noch nicht ganz sicher. «Erinnerungsräume». Vielleicht. Obwohl: zu verquast. Vorsicht, Literatur! «Mein Kampf». Gibt’s leider schon. «Die Wurstvitrine». Nicht schlecht. «Der Mehlgnom». Besser, gut, ich glaub, der wird’s.
Der Mehlgnom.
Titel ist sogar noch wichtiger als der erste Satz. Ich habe übrigens vor, mich auf der biographischen Zeitachse rückwärtszutasten, bis zum Urschrei bzw. Urknall. Vielleicht gelingt der Literatur, was der Physik bisher verwehrt blieb: die erste trilliardstel Sekunde nach dem großen Bumms zu entschlüsseln.
Warm ist es um diese Jahreszeit auf den Kanarischen Inseln auch. Und der Flug dauert nur vier Stunden. Wenn man eh den ganzen Tag am Pool abhängt, ist es schließlich egal, wo man ist. Und Casinos gibt’s auf den Kanaren sicher auch. Was gegen die Kanaren spricht: Ich habe als halbwegs junger Mann Teneriffa bereist, genauer gesagt die
Playa de las Americas,
und dort war es ganz und gar und durch und durch furchtbar. Als ich mich kurz nach der Ankunft an der Hotelrezeption erkundigte, wo in etwa sich der
Ortskern
befände, habe ich nur verständnislose Blicke geerntet. Die Playa de las Americas hat nämlich keinen Kern, sie ist vielmehr eine sinnlose Aneinanderreihung von Fress-, Sauf-, Piss- und Bumsbuden. Ortskern, da lachen ja die Hühner und noch nicht mal die. Zudem ist der Ort, als Vorgriff auf das, was uns in naher Zukunft überall auf der Welt erwarten wird, fest im Griff der Rentner. Eine Seniorendiktatur. Steinalte, verkohlte Truthähne, so weit das Auge reicht. Erst Teneriffa, dann den Rest der Welt. Der Lebensabend kann heutzutage ja sehr lange dauern, unter Umständen länger als Morgen und Mittag zusammen. An der Playa de las Americas ziehen sie jedenfalls in Kohorten über die Promenade, Greise, die ohne Nutzen für irgendjemanden und ohne nennenswerte Erfahrung ihren endlosen Abendfrieden, die sinnlose Lebensverlängerung, den frech nach hinten geschobenen Tod genießen.
Eigentlich sollte ich bei dem Thema mal ganz still sein, denn auch
ich
falle demnächst aus der Zielgruppe, dann heißt es ab ins Hansaland oder in den Europapark Rust, den Lebensabend bei einem schönen Stück Erdbeerkuchen und einem Kännchen Kaffee ausklingen lassen.
Fuerteventura ist die andere Kanareninsel, die ich bereist habe. Fuerteventura heißt, wörtlich übersetzt: Insel der Winde, und das nicht ohne Grund: Tag und Nacht ein einziges Pfeifen und Stürmen und Ziehen und Blasen und Pusten, wer sein Nervenkostüm freiwillig ruinieren will, bitte schön. Ich musste mich auf dem Rücktransfer vor Erschöpfung mehrmals nacheinander übergeben. Die restlichen Kanaren bestehen meinen Informationen zufolge aus reiner Asche-/Lavamischung.
Andere Optionen: Mallorca – kann im Dezember bitterkalt sein. Ägypten – zu unsicher. Marokko – zu schmutzig. Usw. Ich werde erst mal alles sacken lassen und mich dann spontan aus dem Bauch heraus entscheiden.
So, eine Stunde, das reicht, Spaziergang beendet. Eine Stunde ist die Grenze; wenn ich länger unterwegs bin, fängt der Rücken an zu zwacken. Abends wie meistens Zeit totschlagen vor dem Fernseher, zu etwas anderem kann ich mich nicht aufraffen.
Ich schlafe schlecht und unruhig. Gegen Morgen habe ich einen total bescheuerten Traum: Ich sitze in der schönen, heißen Badewanne und blättere in der Fernsehzeitung, als
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