Heiß
Als fanatischer Sportsmann und Motorradfahrer war er auf seinen Maschinen kreuz und quer durch England gereist. Dabei waren Strecken von fünfhundert Meilen am Tag keine Seltenheit, selbst auf den oftmals schlechten Straßen der Insel. Der Jaeger-Tachometer, der nun als Sonderausstattung seine 70 PS starke SS 100 zierte und dessen Skala bis 120 mph anzeigte, reichte trotzdem nicht für die Leistungsfähigkeit seiner Maschine aus. Oft genug war der kleine Mann auf den Landstraßen mit über 200 km/h unterwegs. Nicht nur der Hersteller George Brough, sondern auch die Presse bezeichnete ihn als einen der besten Motorradfahrer des Landes.
Nach nur einem Tritt auf den Kickstarter erwachte der Zweizylinder zum Leben. Während er die Maschine mit dem Kennzeichen GW 2275 warm laufen ließ, zog er seine Handschuhe an und setzte die Motorradbrille auf. Bis zum Postamt nach Bovington, einem kleinen Ort, der aus einer Handvoll in der flachen Landschaft verstreuter Häuser und Bauernhöfe bestand, waren es keine zwei Meilen. Sollte er noch einen kleinen Ausflug nach Weymouth ans Meer anhängen, nachdem er das Telegramm mit der Antwort auf Williamsons Einladung abgeschickt hatte? Die vierzig Meilen hin und retour würden ihm guttun.
Der Auspuff der frisierten Brough klang wie die Fanfaren von Jericho und brachte die Scheiben des kleinen Hauses zum Vibrieren. Er ließ die Kupplung kommen und fing geschickt das ausbrechende Hinterrad der starken Maschine ab, das auf dem Schotter unter dem Ansturm der Pferdestärken sofort durchdrehte. Ein Spielchen, das er oft spielte. Er liebte schnelle Motorräder, den Rausch der Geschwindigkeit, das Risiko und das Gefühl der Stärke.
Die Straße entlang Bovington Camp war auf einer Strecke von fast einer Meile so gut wie schnurgerade. Ein paar kleine Schikanen, wie er es nannte, leichte Kurven, aber nichts Besonderes. Schnell pendelte sich die Nadel des Tachometers bei 80 Meilen ein. Die Brough war noch nicht auf Betriebstemperatur, der Wind im Gesicht hingegen überraschend warm. Der Anblick der tristen, grauen Kasernenbauten, an denen er vorbeifuhr, erinnerte ihn daran, dass er erst vor kurzem aus der Armee ehrenvoll entlassen worden war. Ein neuer Lebensabschnitt war angebrochen.
Vielleicht würde er ihn nach Deutschland führen.
Das kleine Postamt des Ortes hatte die Atmosphäre eines übergroßen Wohnzimmers. Arthur, der kahlköpfige Beamte mit den Ärmelschonern, saß seit Jahrzehnten hinter der hölzernen Absperrung mit dem kleinen Sichtfenster. Er kannte alle und jeden, war oft genug Psychiater und Seelsorger seiner Kunden, und züchtete nebenbei Kaninchen, die er unter der Hand verkaufte. Arthur wusste alles, zumindest wenn es um Bovington und Umgebung ging. So horchte er überrascht auf, als er die Brough herandonnern hörte und der Motor vor dem Postamt erstarb. Wenige Augenblicke später betrat der schmächtige Mann den Raum, die Motorradbrille auf der Stirn, sah sich kurz um und bemerkte mit Genugtuung, dass außer ihm keine Kunden warteten.
»Hallo Arthur, ich möchte ein Telegramm aufgeben!«, begrüßte er den Beamten und schob ein Stück Papier unter der Glasscheibe durch. »Hier die Adresse des Empfängers und der Wortlaut.«
»Hallo Mr. Shaw!«, nickte Arthur und überflog kurz die paar Zeilen. »Ihre Maschine ist ja nicht zu überhören. Damit könnten Sie sich kaum irgendwo anschleichen.« Er lächelte verschmitzt. »Nicht so wie in alten Tagen. Sie sind morgen also in London zum Mittagessen?«
Shaws Augen leuchteten, als er nickte. Er kannte die Straßen zwischen Clouds Hill und der Hauptstadt wie seine Westentasche und betrachtete sie als seine ganz persönliche Rennstrecke. »Und am späten Nachmittag wieder zu Hause«, gab er zurück. »Eigentlich wollte ich jetzt noch eine kurze Spritztour nach Weymouth unternehmen, aber der Tank ist fast leer, und die Kanister mit dem Benzin stehen in der Garage. Also …« Er seufzte und zuckte die Schultern. »Kein Ausflug.«
Nachdem er bezahlt hatte, winkte er Arthur kurz zu, verließ das Postamt und schwang sich wieder auf die Brough. Nachdem er das Motorrad angelassen hatte, fühlte er mit der rechten Hand nach dem Zylinder und stellte befriedigt fest, dass der Motor nun fast heiß war. »Gut so«, murmelte er und fuhr los.
Nachdem er in die King George V Road eingebogen war, gab er Gas. Die Brough sprang geradezu nach vorne und stürmte los wie ein Rennpferd. Nach einer viertel Meile zeigte der Tachometer 90
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