Heißer Schlaf
Geisteskrankheit, die innerhalb weniger Tage eintrat. Etwas bleibt, das nicht Teil der Erinnerung ist (und deshalb nicht lernbar, sondern angeboren), wenn das Somec alles andere ausgelöscht hat, etwas, das die implantierten Erinnerungen Dritter schon deshalb nicht annimmt, weil es sich um Erinnerungen an Handlungen und Entscheidungen handelt, die der wiedererwachte Schläfer selbst nie vorgenommen und getroffen hätte. Rines berichtet von einer unvermeidlichen Reaktion: Ausnahmslos sagten die erwachten Schläfer: »Ich erinnere mich zwar, daß ich es getan habe, aber ich hätte es nie getan.« Sie akzeptierten diese Erinnerungen nicht, obwohl sie überhaupt nicht wissen konnten, daß es nicht ihre eigenen waren. Mangels eines besseren Ausdrucks bezeichnete Rines diese Eigenschaft menschlicher Individuen launig als Seele. Zweifellos war das ironisch gemeint. Aber spätere Forschungen ergaben, daß es sich bei seiner Ironie in Wirklichkeit um Genauigkeit handelte.
Die Seele: Wach im Zeitalter
des Schlafes 2433, Vorwort ii.
Die Frau weinte, und als sie ging, fragte sich Jazz, warum er dies alles tat. Wie Doon so treffend gesagt hatte: jeder Trost, den er ihnen spenden konnte und jede Antwort, die er auf ihr Fragen geben mochte, würden vom Somec weggespült werden. Sie würden sich anschließend an nichts erinnern. War es dann nicht Zeitverschwendung, zu versuchen, ihnen zu helfen?
Aber Jazz sah die Sache anders. Obwohl die Erinnerung nicht blieb, waren diese Leute immer noch Menschen. Sie verdienten es, menschlich behandelt zu werd en. »Die Erinnerung stirbt auch mit dem Tod«, hatte Jazz Doon erklärt, »aber dennoch gestatten wir alten Leuten, Fragen zu stellen.« Doon hatte lachend zugestimmt, aber jetzt erkannte Jazz, daß er doch nicht helfen konnte. Seine Gabe, die Gedanken anderer lesen zu können, war hier kein besonderer Vorteil – in dieser extremen Situation offenbarten sie ihm bereitwillig ihre Gedanken, und er hatte wenig Trost für sie. Die Entscheidung, ihr Wissen von dieser Wachperiode auszulöschen, war gefallen, und an dieser Entscheidung war nicht zu rütteln. Aber diese Entscheidung war der Anlaß für ihre Verzweiflung.
»Der nächste«, sagte Jazz und sah einer weiteren schweren Prüfung entgegen. Aber diesmal hörte er eine vertraute Stimme. »Jazz, du alte Speckschwarte. Verdammt, wie geht es dir?« und dann legte Hop die Arme um ihn, und auch Jazz umarmte Hop. Es war nicht die gekünstelte, für das Publikum bestimmte Umarmung nach seinen Landungen, sondern eine Umarmung unter Freunden. Aus alter Gewohnheit las Jazz Hops Gedanken und hörte ein absurdes Zitat: »Denn dieser mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und wurde wiedergefunden.« Jazz fand das Zitat in seinem Gedächtnis. Es stammte aus einem alten Religionsbuch und spukte in Noyocks Kopf herum, seit seine Mutter es ihm in seiner Kindheit eingebleut hatte.
Jazz lächelte und führte das Zitat zu Ende, obwohl Noyock es nicht ausgesprochen hatte. »Und sie fingen an, froh zu sein.«
Noyock sah ihn erschrocken an und fuhr plötzlich zurück. Jazz las immer noch in Hops Gedanken; er hörte Noyocks endgültige Erkenntnis dessen, was er bisher schon vermutete: Jazz ist Telepath.
»Natürlich«, antwortete Jazz. »Hatte ich dir das nicht gesagt?«
Hops ausgelassene Zuversicht war verschwunden. Er trat unsicher einen Schritt zurück und wußte nicht, was er tun sollte. Wenn Jazz seine Gedanken so leicht lesen konnte, hätte er auch jeden anderen Gedanken, den er jemals gehabt hatte, lesen können. Hop war in großer Verlegenheit. Er wandte sich an Arran und murmelte etwas. Was er sagen wollte, war: »Laß uns verschwinden.«
»Arran Handully«, sagte Jazz. »In Kleidern.«
»Und Jazz Worthing, mit intaktem Verstand«, sagte sie. »Es sieht aus, als hätte sich das Blatt wieder gewendet, nicht wahr?«
»Ich versuche, ein anständiger Gewinner zu sein«, sagte Jazz. »Und ich sehe, daß Sie eine genauso anständige Verliererin sind wie früher.«
»Über das Verlieren wollten wir gerade mit Ihnen reden«, sagte Arran, und Jazz hörte in ihren Gedanken das Erstaunen darüber, daß Hop plötzlich so zurückhaltend war. War es nicht seine Aufgabe, zu versuchen, seinen Freund zu beeinflussen? »Captain Worthing, Hop und ich haben etwas gefunden, das wir nicht verlieren wollen …«
»Von dem wir nicht glauben, daß wir es verlieren müssen …« sagte Hop und suchte nach Worten.
»Wenn Sie uns helfen
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