Heldin wider Willen
Hosri fand, dass sie sie erledigen musste. Bring es einfach hinter dich, hatte sie sich gesagt, obwohl sie wusste, dass die Berichte das Geringste ihrer Probleme waren. Während sie noch daran saß, mussten die übrigen jungen Offiziere tägliche Befragungen durch Ermittler über sich ergehen lassen, die sich entschlossen zeigten, die exakten Gründe herauszufinden, aus denen ein RSS-Patrouillenschiff von einem Verräter kommandiert und
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anschließend in eine Meuterei verwickelt worden war. Esmay würde als Nächste an die Reihe kommen.
Die Ermittlungsteams waren über die Despite hinwegge-schwärmt, hatten den automatischen Überwachungsanlagen die Aufnahmen entnommen, jede Kabine durchsucht, jeden
Überlebenden befragt, alle Leichen in der Leichenhalle des Schiffs untersucht. Esmay konnte sich diese Untersuchung nur anhand der Fragen vorstellen, die diese Leute jeden Tag stellten.
Zunächst hatte sie überhaupt keine visuellen Anhaltspunkte, als man sie aufforderte, in allen Einzelheiten zu erklären, wo sie sich jeweils aufgehalten und was sie gesehen, gehört und getan hatte, als Captain Hearne das Schiff von Xavier wegführte.
Später musste sie anhand eines 3-D-Displays des Schiffes alles noch einmal durchgehen. Wo genau war sie gewesen? In welche Richtung hatte sie geblickt? Als sie sagte, von wo aus sie Kommandantin Hearne zuletzt gesehen hatte, wo hatte sich Hearne aufgehalten und was hatte sie getan?
Esmay war in solchen Dingen noch nie gut gewesen. Rasch
fand sie heraus, dass sie sich anscheinend schon einer
Falschaussage schuldig gemacht hatte; von dort, wo sie nach ihrer Erinnerung gesessen hatte, hätte sie unmöglich Lt.
Commander Forrester so aus dem Quergang kommen sehen
können, wie sie behauptet hatte. Es war, wie der Verhörende ihr erklärte, physikalisch unmöglich, ohne spezielle Instrumente um die Ecke zu blicken. Hatte sie über solche Instrumente verfügt?
Nein. Aber Scanner waren schließlich ihr Spezialgebiet
gewesen. War sie sicher, dass sie sich nicht irgendwas aufgebaut hatte? Und hier ebenfalls – Zeilen ihrer früheren Aussage wanderten neben einem Display des Schiffes den Bildschirm 17
hinunter. Ob sie erklären konnte, wie sie in nur fünfzehn Sekunden von ihrer Unterkunft hier hinten den ganzen Weg nach vorne und zwei Decks weit hinunter hatte zurücklegen können? Weil eine klare Aufnahme von ihr vorlag – sie
erkannte sich mit vertrautem Abscheu selbst wieder –, wie sie sich um 18:30:15 Uhr im Zugangskorridor zur vorderen
Backbordbatterie aufhielt, wo sie doch darauf beharrte, sie hätte sich zur Dienstmeldung um 18:30 Uhr in der eigenen Kabine befunden.
Esmay hatte keine Ahnung und äußerte sich entsprechend.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, für diese
Dienstmeldungen in ihrem Quartier zu sein; dadurch vermied sie, sich in der Messe der Subalternoffiziere aufzuhalten und sich dort dem Klatsch des Tages anzuschließen oder sich mit den anderen zusammen zu melden. Sicherlich hatten die
Gerüchte, die damals an Bord kursierten, sie in diesem
Verhalten noch bestärkt. Sie konnte Gerüchte nicht leiden; Gerüchte brachten einen in Schwierigkeiten. Leute stritten sich über Gerüchte und steckten dann noch tiefer in Schwierigkeiten.
Esmay hatte nicht gewusst, dass Kommandantin Hearne eine Verräterin gewesen war – natürlich nicht! –, aber sie hatte ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube verspürt und sich bemüht, nicht darüber nachzudenken.
Erst, als man sie durch diese Erinnerungen hindurchgezerrt hatte, fiel ihr wieder ein, dass jemand sie ausgerufen hatte, damit sie kam und die tägliche Aktualisierung des
Scannerlogbuchs für die Schränke der Gefechtsköpfe vornahm.
Die Überprüfung der automatischen Scanner war Bestandteil ihrer täglichen Routine. Sie hatte darauf bestanden, dass sie diese Aufgabe schon erledigt hatte, und wer immer es war, der 18
sie ausgerufen hatte, beharrte darauf, dies wäre noch nicht geschehen. Schließlich ging sie hinunter und sah nach. Wer hatte sie ausgerufen? Sie erinnerte sich nicht mehr. Und was hatte sie herausgefunden, als sie dort eintraf?
»Ich hatte bei der Eingabe des Scannercodes einen Fehler gemacht«, berichtete Esmay. »Wenigstens – vermute ich, dass es das war.«
»Was meinen Sie damit?« Der Verhörende sprach in dem
neutralsten Tonfall, den Esmay je erlebt hatte; das machte sie nervös, auch wenn sie die Gründe nicht definieren konnte.
»Naja … die Zahl stimmte nicht.
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