Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
nichtinvasiver bildgebender Untersuchungsverfahren: der Single-Photon-Emission-Computed-Tomographie (SPECT), der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT).
Die Hirnforschung scheint somit auf dem besten Weg zu sein, zur Leitwissenschaft der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts zu werden. Erkennbar ist das allein schon daran, dass die Phraseologie der Hirnforschung metastatisch um sich greift: Neuroanthropologie, Neuroarchitektur, Neuroästhetik, Neurobiologie, Neurodidaktik, Neuroergonomie, Neuroethik, Neuroforensik, Neurogermanistik, Neurohistorik, Neurojournalismus, Neurojura, Neurokriminologie, Neuromarketing, Neuroökonomie, Neuroökotrophologie, Neuropädagogik, Neurophilosophie, Neuropsychoanalyse, Neurosoziologie, Neurotheologie – alles angeblich neue interdisziplinäre Wissenschaftsgebiete mit der Hirnforschung als Leitdisziplin.
Fast scheint es so, als wolle die Hirnforschung sich auch zu einer vierten großen Kränkung der Menschheit hinaufschwingen und die drei Kränkungen, von denen Sigmund Freund spricht, überbieten: die Kränkung durch Kopernikus, nämlich dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Alls sei; die Kränkung durch Darwin, dass der Mensch von Affen abstamme; die Kränkung durch Freud selbst, nämlich dass bereits das Kind ein triebhaftes Wesen sei. Und nun eben die Kränkung durch die Hirnforschung, dass der Mensch samt Psyche nur das Produkt mehr oder weniger komplexer physiologischer Abläufe in 100 Milliarden Neuronen und 100 Billionen (10 hoch 14) Synapsen sei.
Wer «Neuro» ausspricht, gilt als innovativ. «Neuro» bringt Glanz in die Augen eines jeden Betrachters und immunisiert gegen Kritik. So hat «Neuro» das Image bekommen, die aktuell modernsten Forschungsrichtungen zu repräsentieren. Es entwickelt dabei eine suggestive Kraft, die aber bisweilen in eine naive Wissenschaftsgläubigkeit einmündet. Gerade die PISA-besessenen Deutschen greifen begierig alles auf, was mit Neuropädagogik, Neurodidaktik, Zeitfenstern, Brain-Gym, Synapsenpflege und dergleichen zu tun hat.
Die Medien marschieren dabei gerne voraus, denn sie überschlagen sich im «Neuro»-Bereich mit Meldungen, die in vielen Fällen geradezu stereotyp mit dem Satz beginnen: «Neueste Studien der Hirnforschung haben gezeigt …» Solche Meldungen werden gern auf schönen Metaphern aufgebaut. Kamen die entsprechenden früher aus Technik, Materialkunde und Handwerk – das Gehirn als Wachsblock, als Schwamm, als Marmorblock, der durch Meißeln zu formen ist, als «Eindrücke» wie Spuren und Gravuren –, so sind es heute vor allem Metaphern, bei denen die Computertechnik Pate steht. Das Gehirn als Netzwerk oder Speicher und Ähnliches mehr. Und dann natürlich Zeitfenster, die auf- oder zugehen. Aus der Linguistik wissen wir freilich, dass die meisten Metaphern lügen.
Synapsenzählerei und Zeitfensterfolklore
Wie bei einem Pawlow’schen Reflex läuft bei den Rezipienten von neurobiologischen Nachrichten die Vorstellung ab: «Aha, das ist moderne, innovative Wissenschaft!» Studien allerdings, die Unspektakuläres liefern und zur Gelassenheit animieren könnten, haben keine Chance. Chancenlos wäre etwa die Meldung: «Neueste Studien haben ergeben, dass Kinder von alleine groß und intelligent werden.» Die Meldung jedoch, Frühförderung könne in bestimmten Zeitfenstern mehr Synapsen im Hirn erhalten bzw. verbinden, löst einen Hype aus. Synapsenzählerei und Zeitfensterfolklore, wohin man schaut.
Kritisch betrachtet – und mit Blick auf menschliches Lernen und menschliche Entwicklung – sind freilich große Teile der aus der Hirnforschung angeblich abzuleitenden Empfehlungen für Bildung und Erziehung schlicht und einfach Legenden oder Schnee von gestern. Was Douwe Draaisma in seinem Buch «Die Metaphernmaschine – Eine Geschichte des Gedächtnisses» 1999 beschreibt, stimmt noch heute: «Die Psychologie scheint […] an einem Gedächtnisverlust zu leiden, der schon pathologisch wirkt. Der Anteil an Wiederentdeckungen ist beschämend hoch.» Das gilt auch für die Pädagogik. Wenn große Teile der Pädagogik jetzt auf den Neurozug aufgesprungen sind, dann leidet die Pädagogik an einer schweren Amnesie, denn sie scheint ihr milliardenfach erfahrenes praktisches Wissen um menschliches Lernen vergessen zu haben. Spötter sagen ohnehin: Pädagogik ist ein Friedhof, auf dem mittels «Neuro» Auferstehung gefeiert wird.
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