Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
grundsätzlich nicht möglich ist, zum Beispiel eine Fremdsprache auch im Erwachsenenalter akzentfrei sprechen zu lernen.»
Dass zweisprachig aufwachsende Kinder zwei Muttersprachen praktisch en passant und unsystematisch erwerben, ist auf einen didaktisch aufbereiteten Fremdsprachenunterricht nicht übertragbar und kein Beweis für die Zeitfenster-Theorie, der zufolge der Erwerb einer zweiten, akzentfrei gesprochenen Muttersprache an bestimmte Zeitfenster gebunden ist. Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass es bei der Phonetik auf die ersten sechs Lebensmonate ankomme, um eine Sprache akzentfrei zu sprechen. Für andere klappt das Zeitfenster für akzentfreies Sprechen der Fremdsprache im Alter von fünf oder sechs Jahren zu, wieder andere denken, erst mit vierzehn.
Es stimmt nicht, dass man durch inszenierte Zweisprachigkeit neuronale «Pfade» anlegt, die außerhalb dieser Zeitfenster nicht angelegt werden können. Dass man eine zweite Sprache sogar im späteren Alter zur Perfektion erlernen kann, dafür mögen zwei Beispiele stehen. Erstens der in Fürth geborene spätere US-Außenminister Henry Kissinger, zweitens der Pole Josef Korzeniowski, der als 20-Jähriger nach England kam und unter dem Namen Joseph Conrad ein Meister der englischen Sprache wurde.
Beim Erwerb und bei der Erweiterung des Wortschatzes gibt es ansonsten keine sensiblen Phasen. Ein fünfjähriges Kind versteht um die 3000 Wörter, ein Abiturient 20000, manche Menschen schaffen es dann im Laufe ihres Lebens auf 60000 Wörter. Und auch für die Lese- und Schreibfertigkeit gibt es eigentlich keine kritischen Phasen.
Mythos 3: «Wir nutzen nur zehn Prozent unserer Hirnkapazität.»
Das menschliche Gehirn, das rund 2 Prozent des Körpergewichts eines Menschen ausmacht, verbraucht 20 Prozent des körperlichen Umsatzes an Sauerstoff und Glukose. Das Gehirn arbeitet also ganz offenbar hochdynamisch. Da können keine 90 Prozent der Gehirnkapazität brachliegen. Vielmehr sind bei hirnrelevanter Tätigkeit immer viele Hirnareale aktiv. Allerdings haben intelligente Menschen bei geistiger Arbeit einen vergleichsweise geringeren Energieumsatz. Das bedeutet aber nicht, dass sie weniger Hirnareale aktivieren, sondern es beweist, dass das geschulte Gehirn ein hochökonomisch tätiges Organ ist. Für das Gehirn und seinen Eigentümer ist das ein Segen, weil die gleichzeitige Aktivität aller Neuronen einem epileptischen Krampfanfall gleichkäme und koordiniertes Denken und Handeln nicht mehr möglich wären. Also erbringen die höchsten Intelligenzleistungen Gehirne, die gleichsam mit Schwachstrom arbeiten, Starkstromhirne dagegen arbeiten sehr ineffektiv.
Genauso wie der Mensch niemals alle Muskeln des Körpers auf einmal anstrengt – das wäre nämlich der totale Krampfzustand bis zum Tod –, fordert das Gehirn niemals sämtliche Synapsen auf einmal an. Im Kampf ums Dasein ist also Energiesparmodus angesagt. Es gehört zu den Merkmalen der Evolution des Gehirns, dass es seinen Aufwand ökonomisierte. Wenn in einem gewissen Stadium der Hirnentwicklung zahlreiche Synapsen wieder verschwinden, so ist das nicht das Ergebnis einer ausbleibenden Förderung, sondern völlig natürlich.
Der Grad der Aktivierung des Gehirns korreliert also negativ mit der vorhandenen Intelligenz. Einfacher ausgedrückt: Intelligente müssen, um intelligente Aufgaben zu bewältigen, weniger Gas geben als weniger Intelligente. Zum Beispiel werden intelligente Knobeleien von denjenigen am schnellsten gelöst, die den niedrigsten Energieumsatz im Gehirn aufweisen. Je besser Menschen bestimmte geistige oder motorische Aufgaben beherrschen, desto weniger Hirnschmalz verlangt ihnen eine Aufgabe ab. Probanden, die komplizierte geistige Aufgaben am schnellsten lösten, hatten auch die geringste Beschleunigung ihrer Hirnstromwellen nötig.
Trotzdem wird das Märchen vom unausgeschöpften Hirnpotenzial besonders gerne bemüht, meist verbunden mit dem Angebot, die brachliegenden neun Zehntel durch ein sündhaft teures Kursprogramm zu mobilisieren. So wirbt etwa Scientology mit einem Porträt von Albert Einstein, dem die Behauptung von der nur zehnprozentigen Nutzung unseres Denkapparates in den Mund gelegt wird. Wenn es gelinge, so heißt es, die ungenutzten Hirnressourcen zu entfesseln, dann würden gigantische Potenziale freigesetzt. Auch gewisse andere Gruppen wie die Neurolinguistischen Programmierer, die Anhänger des Superlearnings oder der Transzendentalen Meditation
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