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Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)

Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)

Titel: Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Kraus
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Hirnforscher sind zum Teil nicht unschuldig an dieser mitunter unseriösen Debatte um «Neuro». Denn unter den Hirnforschern Deutschlands und Amerikas gibt es solche und solche: Kategorie eins sind die seriösen und streng wissenschaftlichen. Zu dieser ersten Kategorie gehören in Deutschland zum Beispiel Gerhard Roth und Wolf Singer. Singer hält von dem ganzen Förderzirkus wenig, wenn er sagt, Kinder würden sich ihre Anregungen selbst suchen, sobald die sogenannten Zeitfenster aufgingen. Den Eltern empfiehlt er, nichts anderes zu tun, als aufkeimende Neugier zu befriedigen. Roth weist darauf hin, dass keine der von der Hirnforschung vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung des Lernens wirklich neu sei. Beispielsweise stellt er fest, dass von der Methode des selbstbestimmten Lernens nur eine sehr kleine Gruppe hochbegabter Schüler profitiere. Über den Unterrichtsstil schreibt Gerhard Roth 2011: «Der Frontalunterricht eines kompetenten, einfühlsamen und begeisternden Lehrers ist allemal wirksamer als eine wenig strukturierte Gruppenarbeit und ein nicht überwachtes Einzellernen.»
    Die großen Mythen
    Kategorie zwei sind diejenigen mit Talent zum hirnbiologischen Entertainer, die mit ihren Ratschlägen nicht nur gigantische Erwartungen bei Eltern bedienen, sondern mit diesem Geschäft in einem Maße Kasse machen, dass sogar ein Exfinanzminister als hochdotierter Redner vor Neid erblassen könnte. Zu dieser Kategorie gehört Manfred Spitzer, der sich in der Aussage gefällt, dass effektives Lernen gute Laune voraussetze. Was aber, wenn man etwas erarbeiten soll und keine gute Laune hat? Und wenn die höhere Mathematik, die ich mir aneignen muss, mir keinen Spaß und keine Lust verschafft?
    Darüber hinaus versteigt sich Manfred Spitzer zu der Forderung, dass das Grundgesetz wegen der Erkenntnisse der Gehirnforschung geändert werden müsse. Dort wird nämlich im Artikel 7 Absatz 3 festgelegt, dass der Religionsunterricht in öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach ist. Eines seiner Buchkapitel ist dementsprechend überschrieben mit «Vom Frontalhirn zur Grundgesetzänderung». Begründung des Autors für diese Forderung: Eine solche verfassungsrechtliche Vorschrift sei nicht tragbar, denn die Hirnforschung habe bewiesen, dass Heranwachsende frühestens mit Ende der Jugendzeit für ethische Fragen zu gewinnen seien.
    Bislang zumindest konnte in Städten, in denen Hirnforscher dieser Kategorie für jeweils 8000 Euro einen Abendvortrag hielten, nicht nachgewiesen werden, dass sich dort die Durchschnittsnoten der Schüler sprunghaft zum Besseren gewandelt hätten und dass die Sitzenbleiberquoten drastisch reduziert worden wären.
    Zu dieser Kategorie gehört wohl auch der schon erwähnte Gerald Hüther. In seinem Buchtitel «Jedes Kind ist hochbegabt» übersieht er, dass keiner mehr hochbegabt ist, wenn alle hochbegabt sind. Hüther aber macht Hochbegabung auch für Kinder mit Trisomie 21 geltend, von denen einige mittlerweile das Abitur gemacht haben sollen. Eine Nummer kleiner geht es nicht, auch nicht bei Hüthers Vorhaben, einen Masterstudiengang «Potenzialentfaltungscoach» entwickeln zu wollen.
    Wenn Forschern der Kategorie zwei die Seriosität ihrer Wissenschaft am Herzen läge, würden sie aufpassen, dass es ihnen nicht ergeht wie einigen ihrer frühen Vorgänger: Johann Caspar Lavater (1741–1801) etwa mit seiner «Phrenologie», der zufolge sich am Äußeren des Menschen, vor allem seiner Schädelform, Intelligenz und Charakter ableiten ließen. Wer Geschichte, hier Verirrungen in der Geschichte der Hirnforschung, ignoriert, muss gewärtig sein, neuerliche Irrwege einzuschlagen.
    Die Hirnforschung steht sicherlich noch am Anfang, und viele Desillusionierungen stehen ihr noch bevor, einige hat sie allerdings bereits hinter sich, nur dass diese Desillusionierungen bedauerlicherweise nicht Gemeingut geworden sind. Immerhin hat sich im angloamerikanischen und im deutschsprachigen Raum eine «Critical Neuroscience» etabliert. Die Kritiker sprechen von «Neuromania» oder gar davon, dass die Astrologie mehr Wissenschaftlichkeit in sich habe als so manche Neuro-Bindestrich-Wissenschaft. Mitarbeiter der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) stehen an vorderster Stelle bei den Kritikern. Dazu zählt Nicole Becker mit ihren beiden Publikationen «Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik» (2006) und «Hirngespinste der Pädagogik» (2009). Becker war übrigens

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